Steffen Wolf

Der Vogelsang

Rezitationsmusik für Sprecher und Streichquartett. Jan Philipp Reemtsma (Rezitation), Kizuna-Quartett

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: TYXart
erschienen in: das Orchester 03/2022 , Seite 77

Die Kunstform des Melodrams hat ihren festen Platz im aktuellen Komponieren erobert und ist, vor allem im Rahmen zeitgenössischer Musiktheaterproduktionen, längst zum unverzichtbaren Bestandteil verfügbarer vokaler Gestaltungsmittel geworden. In ihrer Reinform freilich, also in der Kombination von rezitiertem poetischen Text und hinzutretender Musik, kommt sie heute weitaus seltener vor als in früheren Zeiten. Mit seiner 2015/16 komponierten Rezitationsmusik für Sprecher und Streichquartett schickt sich Steffen Wolf (*1971) an, diese vor allem im 19. Jahrhundert weit verbreitete musikalische Tradition für das heutige Konzertleben wiederzubeleben. Grundlage ist Christoph Martin Wielands gewitzte Versdichtung Der Vogelsang oder Die drey Lehren (1778), die vom Literaturwissenschaftler und Wieland-Experten Jan Philipp Reemtsma in fast nüchterner Diktion vorgetragen wird.
Bereits der Beginn der Kompositionen verdeutlicht unmissverständlich, in welche Richtung Wolf sein Publikum führt: Mit einer Imitation von Vogelgesang in der ersten Violine, stilisiert und expressiv, hebt die Musik an. Aus ihm entwickelt sich zunächst ein rein instrumentaler Satz, dessen ästhetische Konzeption das Werk wie aus der Zeit herausgefallen erscheinen lässt. Wenn dann der Sprecher zunächst ohne Instrumentalbegleitung einsetzt und seine Rezitation im weiteren Verlauf immer wieder von der Musik kommentiert, mit ihr verschränkt oder unterlegt wird, vertieft sich der gemachte Eindruck: Die bisweilen in ihrem Gestus zwar sehr naive, gleichwohl sehr gut gemachte Musik wirkt durchweg eher als eine Stilkopie denn als Werk eines komponierenden Zeitgenossen.
Dies mag daran liegen, dass Wolf es unterlässt, die historische wie ästhetische Distanz zu dem vorgetragenen Text zu markieren: Seine Musik nimmt den Faden der poetischen Vorlage mit bisweilen kindlicher Unbefangenheit auf und ver-sucht sich in einer gleichsam „zeitlosen“ Auseinandersetzung mit Wielands Versdichtung. Die Zusammenhänge mit dem Text sind daher meist auch überdeutlich artikuliert: Eine etwas dissonantere Satzart kommt dort zum Zuge, wo es Zuspitzungen im Text gibt; ist hingegen von Gefühlen die Rede, hört man ein schmachtend-schmeichlerisches Kantabile.
Allenthalben verdoppelt das Komponierte den Eindruck des Texts in die musikalische Dimension hinein, ohne ihm wirklich neue Schichten oder vielleicht auch die dringend nötige Doppeldeutigkeit hinzuzufügen. Dass die Musik dementsprechend oft ein wohlklingendes Espressivo einfordert, kommt dem Vortrag des Kizuna-Quartetts sehr entgegen: Die Mitglieder geben den Kantilenen eine klangvolle Formung, verleihen den polyfonen Momenten des Tonsatzes Transparenz, liefern immer wieder markante musikalische Einwürfe und schaffen dort atmosphärische Momente, wo zurückhaltendes Akkordspiel in fahleren Pianoklangfarben gefordert ist. Insofern hinterlässt die Produktion einen runden Gesamteindruck.
Stefan Drees