Bunz, Rainer
Der vergessene Maestro
Frieder Weissmann
Nur noch ein Bruchteil der rund 2000 von Frieder Weissmann (1893- 1984) beim Schallplattenkonzern Lindström gemachten Aufnahmen ist heute noch greifbar. Die spätesten Aufnahmen datieren von 1933, für den jüdischen Dirigenten also ein Schicksalsjahr und der Beginn eines langsamen Vergessens. Auch die Emigration nach Amerika dürfte dazu beigetragen haben, dass der Name Weissmann heute nur noch Musikfreunden mit historischem Hintergrundwissen vertraut ist.
Selbst Rainer Bunz, dem Autor der hier vorgestellten Biografie, war Frieder (eigentlich Semy) Weissmann gänzlich unbekannt, als er zufällig auf seinen Namen stieß. Ein Anlass zu näherer Beschäftigung war nicht zuletzt die (fraglos etwas äußerliche) Tatsache, dass der Geburtsort des Dirigenten das hessische Langen war, wo Bunz selbst zwei Jahrzehnte lebte. Herausgekommen ist eine Biografie, deren Materialfülle geradezu euphorisiert. Die Forscherakribie reicht bis in das üppige Register hinein. Man mag die inhaltlich überaus detaillierte Beschreibung von Weissmanns Konzerten und Opernaufführungen inklusive Nennung aller Mitwirkenden (samt Lebensdaten) vielleicht als etwas schwerlastig empfinden, doch ist bei diesem Vergessenen Maestro ein wenn schon, denn schon angemessen. Zudem versteht es der Autor, mit seinem spannungsvollen Erzählstil Lesemüdigkeit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Dass der ehemalige Fernsehredakteur freilich kein genuiner Musikschriftsteller ist, merkt man u.a. an der manchmal etwas weitschweifigen Formulierung von Werktiteln oder auch einer Bezeichnung wie Duette Elsa-Lohengrin statt Brautgemach-Szene. Gleichwohl sind alle Anmerkungen von Bunz hochkompetent und erhellend.
Der Werdegang Weissmanns verlief anfangs solide als Korrepetitor an diversen Theatern bis hin zur Berliner Staatsoper; auch als Konzertdirigent reüssierte er. Entscheidend für seine Karriere war freilich die Arbeit im Plattenstudio, wo er mit vielen Größen seiner Zeit zusammenarbeitete. Unter ihnen war auch die Sopranistin Meta Seinemeyer, welche er wenige Stunden vor ihrem frühen Leukämietod mit 33 Jahren ehelichte. Weissmanns Ehrgeiz und Umtriebigkeit mündete nach der Emigration verstärkt in ein hektisches Reiseleben, welches er als lebensfroher Mensch freilich genoss. An Deutschland ging Weissmann nach 1945 nicht vorbei, doch waren Engagements in anderen europäischen Ländern ergiebiger. Allerdings nahmen sie mit zunehmendem Alter immer stärker ab.
Obwohl im Grunde seines Herzens Romantiker, engagierte sich der selbst komponierende Dirigent für zeitgenössisches Musikschaffen, war überhaupt für innovative Vorhaben stets offen. So beteiligte er sich an einer Gesamteinspielung der Beethoven-Symphonien noch im akustischen Aufnahmeverfahren, war später ein Anwalt der Werke Gustav Mahlers. Ungeachtet gelegentlicher Negativurteile wurde Weissmanns Künstlerschaft durchgehend hoch geschätzt. So war in einer Zeitungsrezension zu lesen: Er lenkt nicht nur, er gestaltet Musik.
Christoph Zimmermann