Laurenz Lütteken

Der verborgene Sinn

Verhüllung und Enthüllung in der Musik

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Metzler/Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 05/2022 , Seite 61

Ist Musik, wenn historische oder pädagogische Aspekte nicht im Vordergrund stehen, heute noch von Interesse? Hat uns Monteverdi noch etwas zu sagen?
Laurenz Lütteken gehört zu den Musikwissenschaftlern, die es wagen, eingetretene Pfade des Forschens zu verlassen, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, um nicht nur der Frage nachzugehen, was Musik längst vergangener Tage uns heute noch mitteilen, sondern auch, ob Musik sich selbst zum Gegenstand machen kann. Das ist keine leicht zu beantwortende Frage, zumal sie aus dem Bewusstsein heraus gestellt wird, dass es eine finale Antwort möglicherweise gar nicht gibt.
Entstanden ist ein Buch, das unter dem sibyllinisch anmutenden Titel Der verborgene Sinn zum Spannendsten gehört, was in den letzten Jahren erschienen ist. Lütteken nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise, die er in der Vorbemerkung wie folgt umschreibt:
„Das Unternehmen war von Anfang an eher experimentell angelegt […]. Gleichwohl, es soll eine Einladung sein, in der ungewöhnlichen Erkundung zum Teil sehr bekannter Musikwerke Grundzüge des neuzeitlichen Musikbegriffs aufzuspüren, zu ergründen und neu zu bewerten. Das Buch richtet sich daher an alle, denen die Musik etwas bedeutet und die bereit sind, diese in vielem rätselhafte Rolle auf einer ungewöhnlichen Entdeckungsreise nochmals zu erkunden.“
In Kompositionen von Monteverdi bis Isabel Mundry versucht
Lütteken Spuren zu finden, wo Musik selbstreflexiv in Erscheinung tritt. Ein ganz wichtiger Aspekt dabei ist Monteverdis „Grenzüberschreitung“, mit der Anfang des 16. Jahrhunderts das subjektiv Menschliche bedeutsam wurde, im „Sinne des endgültigen Verschwindens normativer Gattungsgrenzen und Schreibarten, im Sinne der Freilegung eines neuen, eigentlichen Musikbegriffs“ (S. 54). Eine berechtigte, wenngleich strittige Annahme, die aber in die spannende Frage mündet: Was ist Musik eigentlich? Dies untersucht Lütteken an zahlreichen Beispielen aus Opern von Monteverdi, Charpentier, Mozart, Beethoven, Cherubini bis hin zu Wagner, Verdi, Strauss und Hindemith.
Mit der Analyse von Bernd Alois Zimmermanns „Ekklesiastischen Aktion“ Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne verbunden mit dem Werk Photoptosis wird ein großer Bogen zurück zu Monteverdi gespannt. „Aber die Substanz, um die es hier geht, hat ihre uneingeschränkte Gültigkeit längst verloren“ (S. 227), schreibt Lütteken und zieht am Ende das Resümee: „Aus der programmatischen Idee, Musik könne über sich sprechen, ist der Gedanke geworden, Musik könne eine solche Möglichkeit lediglich noch andeuten“ (S. 239).
Natürlich gibt es auch zahlreiche weitere Untersuchungen zu Instrumentalwerken, wobei vor allem die zu Debussy und Bruckner überaus erhellend sind. Zahlreiche Hinweise zur Literatur, Malerei und Philosophie sind bei aller Gelehrsamkeit Zeugnisse der Lust am Analysieren und des Kombinierens. Fazit: hoher Lesegenuss, verbunden mit Erkenntnisgewinn und erfrischend neuen Sichtweisen.
Michael Pitz-Grewenig