Christian Neef
Der Trompeter von St. Petersburg
Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa
Der ehemalige Russland-Korrespondent des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Christian Neef, hat für sein Buch Lebensgeschichten von Deutschen ausgewählt, die voller Hoffnungen und Träume an die Stadt an der Newa gekommen waren: der gefeierte Trompeter Oskar Böhme, die Apothekerdynastie Poehl und die Pastorenfamilie Maaß, deren Nachfahre der Schauspieler Armin Müller-Stahl ist.
Im Zentrum des Buchs steht der 1870 in der Nähe von Dresden geborene Oskar Böhme, der nach dem Musikstudium in Leipzig und Hamburg zunächst in Budapest angestellt war, bevor er seine Karriere in der musikversessenen, damaligen russischen Hauptstadt St. Petersburg fortsetzte. Mit zahlreichen Abbildungen zeichnet Christian Neef Böhmes raschen Aufstieg in der Metropole nach, deren Stimmung er sehr authentisch darzustellen vermag, indem er sie mit biografischen Bausteinen der anderen Protagonisten illustriert. Böhme, der sich zunächst sein Geld als Musikpädagoge und Komponist verdiente, schriebt in diesen Anfangsjahren Werke wie die Soirée de St. Pétersbourg, La Napolitaine und das Konzert e-Moll, welches eines der wenigen explizit für die Trompete geschriebenen Konzerte der Romantik ist.
Nach seiner Hochzeit mit Alexandra Ignatjewna Jakowlewna, einer damals 43 Jahre alten Witwe mit Kind, erhielt Böhme im Jahr 1901 auf eigenen Wunsch die russische Staatsbürgerschaft. 1902 wurde er nach erfolgreichem Probespiel zum ersten Trompeter des Marientheaters (Mariinski-Theater) berufen. Es folgten glückliche Jahre für ihn in einer Stadt, in der Komponisten wie Liszt, Wagner, Dvořák und Tschaikowsky einst dirigiert hatten und welcher Größen wie Gustav Mahler zu Zeiten Böhmes ihren Besuch abstatteten. Das Marientheater war mit 47 Solosängern, 120 Chormitgliedern, 220 Tänzern und 135 Orchestermusikern, zu denen auch viele deutsche Ausnahmemusiker gehörten, in dieser Zeit extrem gut besetzt.
Beinahe wie ein Kriminalroman liest sich der darauf folgende politische Umsturz: die Beschreibung der Zeit um den Ersten Weltkrieg, Hunger und Arbeitslosigkeit der Bevölkerung sowie der Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917. Geradezu schockierend akribisch stellt Neef die Folgen der Machtergreifung der Bolschewiken dar, den drohenden Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Folgen des neuen politischen Systems insbesondere für die porträtierten deutschen Familien.
Lange Zeit kursierten Vermutungen über den Verbleib des Trompeters; Oskar Böhmes Bruder Benno spricht in einem Brief aus dem Jahr 1940 an Willi Liebe (Solotrompeter der Deutschen Oper Berlin) davon, dass sein Bruder nach wie vor in Russland als Musiker engagiert sei. Der ausgezeichneten Recherche von Christian Neef ist es zu verdanken, dass nun die Details von Oskar Böhmes letzten Lebensjahren und seiner Hinrichtung bekannt sind.
Der Trompeter von St. Petersburg ist ein grandioses und in höchstem Maße ergreifendes Buch, welches Licht ins Dunkel einer ganzen Epoche bringt.
Kristin Thielemann