Graun, Carl Heinrich

Der Tod Jesu

Passionsoratorium, Arcis-Vocalisten München, Barockorchester L’arpa festante, Ltg. Thomas Gropper

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 1809
erschienen in: das Orchester 05/2015 , Seite 77

Mit der Berliner Uraufführung von Grauns Oratorium Der Tod Jesu am 26. März 1755 begann eine beispiellose Erfolgsgeschichte: Über konfessionelle und nationale Grenzen hinweg verbreitete es sich und wurde bis in die 1880er Jahre zum meistaufgeführten Werk seiner Art. Anders als in den Passionen von Schütz oder Bach ist hier nicht ein Evangelienbericht die Textgrundlage. Der Librettist Carl Wilhelm Ramler schildert das Passionsgeschehen aus der Sicht gefühlsmäßig und reflektierend Anteil nehmender Augenzeugen, verkörpert durch die Solisten und den Chor. Dies war zu jener Zeit zwar nicht neu, doch erscheint Jesus hier nicht im Sinne lutherischer Dogmatik als Erlöser, sondern als ethisches Vorbild. Diese dem Geist der Aufklärung gemäße Sicht entsprach den Vorstellungen der Auftraggeberin, der Prinzessin Anna Amalia, und mag auch andere Komponisten, darunter Telemann und Johann Christoph Friedrich Bach, angeregt haben, Ramlers Text zu vertonen.
Auffällig ist die stilistische Vielfalt, die uns in diesem Werk begegnet. Die sechs altbekannten  Choralmelodien sind schlicht harmonisiert und mit neuen, zeitgemäßen Texten versehen. In den großen Chorsätzen zeigt Graun seine Vertrautheit mit der Vokalpolyfonie früherer Zeiten, wobei einige homofone Vor- und Zwischenspiele ausdrucksstarke Kontraste erzeugen. Die ausgedehnten Rezitative und Arien bewegen sich in der Aura der italienischen Opera seria, für die der Komponist als Hofkapellmeister Friedrichs II. einzustehen hatte. Dies war schließlich auch der Grund, weshalb das Werk im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend bei der Kritik Ablehnung fand und nach 1884 für fast 100 Jahre aus dem Musikleben verschwand. In den vergangenen dreißig Jahren hat es durch Aufführungen und Aufnahmen wieder zunehmende Beachtung gefunden.
So dürfte auch die vorliegende Neuproduktion mit einem stilistisch erfahrenen Ensemble auf Interesse stoßen. Monika Mauch (Sopran) trifft mit ihrer zurückhaltenden Stimmführung den Charakter resignativer Trauer, wirkt aber in der Folge von vier nur durch einen kurzen Choral unterbrochenen Sätzen etwas monoton. Mehr stimmlichen Glanz zeigt sie in der Arie „Singt dem göttlichen Propheten“ im zweiten Teil. Georg Pop­lutz (Tenor) bringt in der Schilderung der Gefangennahme Jesu sein außerordentlich weites Ausdrucksspektrum ins Spiel: Jedes Detail, jeden Affekt formt er mit größter Treffsicherheit. Andreas Burkhart (Bariton) verfügt über ein angenehm helles Stimmtimbre, das vor allem im lyrischen Bereich überzeugt. Die offenbar groß besetzten Arcis-Vocalisten erweisen sich als homogener und stilsicherer Klangkörper. Wenn die Frauenstimmen hier nicht versuchen, einen Knabenchor zu imitieren, entspricht dies der Aufführungstradition des Werks. Die gestalterischen Impulse des vielfach bewährten Barockorchesters L’arpa festante bleiben durch eine oft nivellierende Aufnahmetechnik zu sehr im Hintergrund. Den CDs beigefügt ist ein informativer Begleittext.
Jürgen Hinz