Martin Stark (Illustration)

Der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner

Büchergilde Bilderbogen – extra –, Schuber mit 4 + 1 beidseitig bedruckten Bilderbogen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Büchergilde Gutenberg,
erschienen in: das Orchester 05/2021 , Seite 75

Kaum ein anderes Musiktheaterwerk hat Künstler aller Gattungen so sehr zu Neuinterpretationen inspiriert wie Richard Wagners Ring des Nibelungen: ob als Marionettenspiel (Salzburger Marionettentheater) oder Livehörspiel (Stefan Kaminski), in genialer Verkürzung auf einen Abend (Loriot) oder Comic in vier Bänden (Numa Sadoul und France Renonce).

Nun hat der Illustrator Martin Stark dieser Vielfalt „eine Oper fürs Auge“ hinzugefügt. Erschienen ist sein neuartiger Zugang in einer Form, die eine lange Geschichte aufweisen kann und dennoch den meisten unbekannt sein dürfte: als Bilderbogen. 2019 begann die Büchergilde Gutenberg mit der Wiederentdeckung dieses alten Mediums und hat seither sieben Bogen von bekannten und noch unbekannten Illustratoren zu so unterschiedlichen Autoren und Themen wie Hans Traxler, Münchhausen, Pablo Picasso oder den Vater und Sohn-Geschichten von Erich Ohser alias e.o. plauen als Sammlerstücke gestalten lassen, die auch im Abonnement bezogen werden können.

Als Extra-Ausgabe erscheint Der Ring des Nibelungen in einem hochwertigen Schuber, der insgesamt fünf Bogen umfasst: je einen für jede Oper sowie als Zugabe den „Stammbaum“, womit die Weltesche gemeint ist und die mit der Handlung verknüpften Götter, Menschen, Zwerge und Familienzusammenhänge.

Auf der Rückseite jedes Bogens findet sich das komplette Libretto der jeweiligen Oper – in einer Schriftgröße, die ein starkes Vergrößerungsglas zum Entziffern erfordert. Dazu eine kurze Inhaltsangabe von Lukas Gedziorowski, die in ihrem feinen Humor an den Geniestreich von Loriot heranreicht. Auf der Vorderseite erinnern die an den Expressionismus angelehnten Zeichnungen von Martin Stark an ein Wimmelbuch für Erwachsene. Auf den zweifarbigen Zeichnungen – zu Schwarz tritt als Schmuckfarbe noch (natürlich!) Gold hinzu – gehen die Szenen nahtlos ineinander über und sind auf den ersten Blick in wilder Ordnung über den ganzen Bogen verteilt.

Doch dann entdeckt das Auge einen goldenen Faden, der den Betrachter durch die Szenerie leitet und alle Szenen auf raffinierte Weise miteinander verknüpft. Was der Kenner ahnt, wird in der Götterdämmerung zur Gewissheit: Es handelt sich um den Schicksalsfaden, den die Nornen spinnen und der folgerichtig zu Beginn des vierten Bogens reißt (was die Entzifferung der handlungsreichen Götterdämmerung zu einer geduldigen Puzzlearbeit macht).

Die über viele Jahrhunderte vor allem im sakralen Bereich gängige Praxis, den Leseunkundigen die heiligen Geschichten ausschließlich über Bilder nahezubringen, ist für uns heute ungewohnt und bedarf ei­nes gewissen Maßes an Kontemplation. Doch wer bereit ist, sich in diese Bildwelten hineinzubegeben, entdeckt immer neue Details, z.B. die an die „Venus von Willendorf“ erinnernde Erda oder die unendlich vielen Kleinigkeiten im Hintergrund. Ein Kaleidoskop für den Wagnerianer, der schon alles hat…

Rüdiger Behschnitt