Danuta Gwizdalanka

Der Passagier

Der Komponist Mieczysław Weinberg im Mahlstrom des zwanzigsten Jahrhunderts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Harrasowitz
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 64

Der Titel des Buchs verdankt sich dem derzeit wohl bekanntesten Werk des Komponisten und trifft zugleich auf dessen Lebensgeschichte genau zu. Die Passagierin, Weinbergs zweiaktige Oper aus den Jahren 1967/68, handelt von einer Schiffspassage, bei der eine ehemalige KZ-Insassin auf ihre einstige Aufseherin trifft. 2006 uraufgeführt, wurde das Werk 2010 mit großem Erfolg bei den Bregenzer Festspielen inszeniert.
Seitdem ist Weinbergs Name auch in Westeuropa bekannt und Einspielungen seiner Werke po-pulär. Daher erscheint eine Biografie des Komponisten mehr als angebracht. Sie wurde im Rahmen polnischer Profile vom Deutschen Polen Institut veröffentlicht und aus dem Polnischen übersetzt.
Sehr gründlich befasst sich die Autorin mit der Familiengeschichte, den ersten musikalischen Erfahrungen Weinbergs in Warschau und zeichnet ein präzises Profil der gestaffelten Stadtkulturen. Erste Prägungen erfuhr der Komponist keineswegs durch die Meister europäischer Musikgeschichte, sondern durch Umgangs-, Volks- und Unterhaltungsmusik, die sein Werk lebenslang begleiten sollten. Er improvisierte, komponierte und er dürfte in einigen Zügen mit Władysław Szpilman vergleichbar sein, dessen Schicksal in Polanskis Der Pianist verfilmt wurde.
Kurz, aber stets informativ schildert Gwizdalanka die Stationen seiner Flucht, die Weinberg zum Passagier machten: die Flucht vor dem deutschen Faschismus in die Sowjetunion und die dortigen erschütternden Widrigkeiten, denen der Komponist als polnischer Jude lange ausgesetzt war – bis nach Stalins Tod das sogenannte Tauwetter in den 1960er Jahren für eine breitere Anerkennung des Komponisten sorgte, die aufgrund von ästhetischen Verdikten und Verdächtigungen bis dahin ausgeblieben war.
Eindrucksvoll wie ebenso bedrückend tritt dabei die Verunsicherung des Komponisten hervor, den ästhetischen Vorstellungen politischer Verordnungen nicht entsprechen zu können und selbst bei Versuchen des Entgegenkommens zu scheitern. Darin mag die musikgeschichtliche Tragik Weinbergs deutlich zum Vorschein kommen, verbunden mit einer großen Vorsicht, über Dinge zu sprechen. Nur wenige Interviews oder Schriften sind von ihm bekannt, in denen er aber immerhin seinen enormen Schaffensdrang als „gieriges Komponieren“ apostrophierte.
Beredt ist sein Umkreis, der vor allem durch die enge Freundschaft mit Schostakowitsch geprägt ist und die im Buch interessant beleuchtet wird. Aber beredt ist vor allem Weinbergs vielgestaltiges Œuvre. Mit ästhetischen Fragestellungen zur Modernität hat sich der Komponist nicht auseinandergesetzt. Dafür ist seine Musik durchzogen von jüdischen und polnischen Volksweisen, wo er seine Herkunft und Erinnerung nicht verleugnen musste. Sein Werk umfasst neben 22 Symphonien und zahlreicher Kammermusik, darunter 17 Streichquartetten, auch Filmmusik, die ihn in der Sowjetunion populär machte. Als Passagier begab Weinberg sich wohl ins innere Exil der Musik selbst.
Steffen A. Schmidt