Als einer der produktivsten Schriftsteller seiner Zeit schrieb Victor Léon (1858-1940) die Libretti zu einigen der weltweit erfolgreichsten Operetten - darunter Lehárs »Lustige Witwe« und »Wiener Blut« von Johann Strauss - sowie über hundert weitere Bühnenwerke. Dennoch ist er weitgehend vergessen - und selbst in der Fachwelt ist der Wissensstand über ihn vielfach lückenhaft. Da Victor Léon jüdischer Abstammung war, wurden seine Werke in der NS-Zeit zwar gespielt, sein Name aber 'totgeschwiegen', was die Rezeption bis heute beeinflusst. Barbara Denscher beschreibt in dieser ersten umfassenden Werkbiografie den Weg Victor Léons vom Wiener Musiktheater zur globalen Unterhaltungskultur.

Barbara Denscher

Der Operettenlibrettist Victor Léon

Eine Werkbiografie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transcript
erschienen in: das Orchester 12/2017 , Seite 58

Nachdem das musikalische Unterhaltungstheater des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt in seiner Ausprägung als „Operette“ – in jüngerer Zeit verstärkt in den Blick einer kulturhistorisch ausgerichteten Forschung gerückt ist und eine Reihe prominenter Operettenkomponisten eine neue und zeitgemäße Würdigung erfahren haben, liegt mit Barbara Denschers Monografie über Victor Léon nun erstmals eine umfangreiche und quellenbasierte Arbeit zu einem Operettenlibrettisten vor – und zwar zu einem Librettisten, der zu den einflussreichsten Vertretern seines Fachs gehörte.
Léon, geboren 1858 als Sohn eines Rabbiners im ungarischen Senica und gestorben 1940 in Wien, arbeitete nicht nur mit den führenden Komponisten seiner Zeit wie Johann Strauß, Franz Léhar, Leo Fall und Robert Stolz zusammen; er verfasste auch (in der Regel als einer der Partner in einem Librettisten-Duo) die Texte zu einer Reihe jener Operetten, die bis in die Gegenwart zu den Repertoirestandards des Genres gehören, wie Der Opernball (1898), Wiener Blut (1899) und Die lustige Witwe (1905). Ein Durchgang durch Léons Œuvre ermöglicht zugleich einen Nachvollzug von wesentlichen Verschiebungen in der Ästhetik der Operette.
Barbara Denscher hat ihrer Arbeit, mit der sie 2016 in Wien promoviert wurde, den Untertitel Eine Werkbiografie gegeben. Sie legt ihrer Darstellung, wie sie in der Einleitung in allerknappster Form anspricht, das „Konzept einer ‚reflektierten Biografie‘“ zugrunde, die den „geschichtliche[n] Prozess in die zu schreibende Biographie“ einbeziehen will. Inwieweit eine theoretische Durchdringung des Formats „Biografie“ für Denschers Schreiben tatsächlich leitend war, muss dahingestellt bleiben.
Ungeachtet einer Verschwommenheit im Methodischen präsentiert sich die vorliegende Monografie als immens faktenreicher und sehr gut lesbarer Einblick in ein halbes Jahrhundert Geschäft mit der Operette in Mitteleuropa. Die mehr als drei Dutzend Kapitel zeichnen die Karriere Léons vornehmlich als Abfolge von Kooperationen (mit Komponisten, Librettistenkollegen, Direktoren und Bühnenkünstlern) nach, wobei einigen ausgewählten Bühnenstücken umfangreichere Deutungen gewidmet werden.
Victor Léon als Person bleibt hingegen über weite Strecken beinahe „unsichtbar“. Insofern ließe sich Denschers Arbeit sinnvollerweise als Geschichte des (vor allem Wiener) musikalischen Unterhaltungstheaters begreifen, für die die Laufbahn eines der wichtigsten Protagonisten dieser „Branche“ die Stationen vorgibt. Aus musiktheaterhistorischer und -praktischer Perspektive interessiert dabei besonders, welch hohen Stellenwert die französische Produktion auch um und nach 1900 noch für das deutschsprachige Theater hatte – Léons Tätigkeit war über Jahre vornehmlich die des Adaptierens französischer Stücke –, und wie weit
Léons Wirksamkeit über die eines Textautors hinausreichte, nahm er doch sowohl als Regisseur wie als Dramaturg entscheidenden Einfluss auf das Erscheinungsbild vieler Wiener Theaterereignisse.
Marion Linhardt