Hans-Peter Achberger

Der Ohr-an-Ohr-Konflikt

Störungsmuster in der musikalischen Interaktion

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wolfgang Metzner
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 60

Am 20. November 2020 konn­te man im Hamburger Abendblatt ein Gespräch mit den Dirigenten Alan Gilbert (Chef des NDR Elb­philharmonie Orchesters) und Kent Nagano (GMD der Stadt) lesen. Es ging um die Führerrolle, um Kon­takte, Sympathie, Ungleichheit und Distanz im Orchester. Fünf Minu­ten Lesezeit und eine Menge Er­kenntnis.
Was man von den 148 Seiten des vorliegenden Buchs nicht sagen kann. Schon der sprachlich verun­glückte Titel macht misstrauisch, und zwar gegenüber der aufgeplus­terten, leeren Sprache, gegenüber der Methode, welche die Anforde­rungen der empirischen Sozialfor­schung ignoriert (Standpunkt des Buchautors: Suggestivfragen sind in Ordnung, wenn man bestimmte Dinge erfahren will), und gegen­über den sogenannten Analysen, die keine sind, sondern dem stau­nenden Leser aufwendig erklären, dass ein Schimmel weiß ist. Zudem geht es dem Autor nicht um Kon­flikte, sondern um Störungen. Über ihre Gestalt als „Muster“ verrät er nichts.
Es handelt sich um Fragen, die in der Gruppendynamik in Soziolo­gie und Psychologie seit Jahrzehn­ten erforscht werden. Mithin Fra­gen, die menschliches Verhalten im Plural betreffen und deshalb natür­lich auch in einem Orchester zu be­obachten sind und sich dort natür­lich auf die gemeinsam zu erbrin­gende Leistung beziehen: nämlich richtig gut zu spielen. Hochseilartis­ten und Segelschiffbesatzungen ha­ben wieder andere Aufgaben: nicht abstürzen und nicht kentern.
Hans-Peter Achberger ist da­von überzeugt, dass er eine For­schungslücke in der Musiksoziologie geschlossen hat. Und zusammengefasst schreibt er selbstbe­wusst: „Die wissenschaftliche Rele­vanz der Arbeit besteht darin, den Konfliktbegriff durch eine empiri­sche Mikrobeobachtung eines be­sonderen Berufsfeldes erweitert und die ursprünglichen Störungsmuster im interaktiven Bereich der zwi­schenmenschlichen Begegnung auf­gedeckt und in Sprache gefasst zu haben.“ In der Einleitung hatte er noch geschrieben, dass er den Ter­minus Konflikt nur im umgangs­sprachlichen Sinn benutzt habe und dass Konflikt erst in einer An­schluss-Studie über die Dynamik der Störungen genauer gefasst wer­den könne.
Die Veröffentlichung ist eine Master-Abschlussarbeit im Bereich Mediation und Konfliktmanage­ment der Europa Universität Via­drina in Frankfurt (Oder). Achber­ger (selbst Orchestermitglied) hat dreizehn Experteninterviews mit ausgewählten Mitgliedern der Phil­harmonia Zürich geführt und die Interviews inhaltsanalytisch unter­sucht, um herauszubekommen, welche Probleme beim Zusammen­spiel auftreten. Er hatte nämlich den Verdacht, „dass die spezifi­schen Störungen in Verbindung mit der Tätigkeit des gemeinsamen Mu­sizieren standen“. Was naheliegt.
Es mag sein, dass die hier ver­sammelten Fragen und Antworten den Zustand des Orchesters zum Zeitpunkt X beschreiben und Mate­rial für einen Coach zum Bearbei­ten und Lösen von Problemen zur Verfügung stellen. Mehr bietet das Buch allerdings nicht.
Kirsten Lindenau