Hans-Peter Achberger
Der Ohr-an-Ohr-Konflikt
Störungsmuster in der musikalischen Interaktion
Am 20. November 2020 konnte man im Hamburger Abendblatt ein Gespräch mit den Dirigenten Alan Gilbert (Chef des NDR Elbphilharmonie Orchesters) und Kent Nagano (GMD der Stadt) lesen. Es ging um die Führerrolle, um Kontakte, Sympathie, Ungleichheit und Distanz im Orchester. Fünf Minuten Lesezeit und eine Menge Erkenntnis.
Was man von den 148 Seiten des vorliegenden Buchs nicht sagen kann. Schon der sprachlich verunglückte Titel macht misstrauisch, und zwar gegenüber der aufgeplusterten, leeren Sprache, gegenüber der Methode, welche die Anforderungen der empirischen Sozialforschung ignoriert (Standpunkt des Buchautors: Suggestivfragen sind in Ordnung, wenn man bestimmte Dinge erfahren will), und gegenüber den sogenannten Analysen, die keine sind, sondern dem staunenden Leser aufwendig erklären, dass ein Schimmel weiß ist. Zudem geht es dem Autor nicht um Konflikte, sondern um Störungen. Über ihre Gestalt als „Muster“ verrät er nichts.
Es handelt sich um Fragen, die in der Gruppendynamik in Soziologie und Psychologie seit Jahrzehnten erforscht werden. Mithin Fragen, die menschliches Verhalten im Plural betreffen und deshalb natürlich auch in einem Orchester zu beobachten sind und sich dort natürlich auf die gemeinsam zu erbringende Leistung beziehen: nämlich richtig gut zu spielen. Hochseilartisten und Segelschiffbesatzungen haben wieder andere Aufgaben: nicht abstürzen und nicht kentern.
Hans-Peter Achberger ist davon überzeugt, dass er eine Forschungslücke in der Musiksoziologie geschlossen hat. Und zusammengefasst schreibt er selbstbewusst: „Die wissenschaftliche Relevanz der Arbeit besteht darin, den Konfliktbegriff durch eine empirische Mikrobeobachtung eines besonderen Berufsfeldes erweitert und die ursprünglichen Störungsmuster im interaktiven Bereich der zwischenmenschlichen Begegnung aufgedeckt und in Sprache gefasst zu haben.“ In der Einleitung hatte er noch geschrieben, dass er den Terminus Konflikt nur im umgangssprachlichen Sinn benutzt habe und dass Konflikt erst in einer Anschluss-Studie über die Dynamik der Störungen genauer gefasst werden könne.
Die Veröffentlichung ist eine Master-Abschlussarbeit im Bereich Mediation und Konfliktmanagement der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Achberger (selbst Orchestermitglied) hat dreizehn Experteninterviews mit ausgewählten Mitgliedern der Philharmonia Zürich geführt und die Interviews inhaltsanalytisch untersucht, um herauszubekommen, welche Probleme beim Zusammenspiel auftreten. Er hatte nämlich den Verdacht, „dass die spezifischen Störungen in Verbindung mit der Tätigkeit des gemeinsamen Musizieren standen“. Was naheliegt.
Es mag sein, dass die hier versammelten Fragen und Antworten den Zustand des Orchesters zum Zeitpunkt X beschreiben und Material für einen Coach zum Bearbeiten und Lösen von Problemen zur Verfügung stellen. Mehr bietet das Buch allerdings nicht.
Kirsten Lindenau