Roland H. Dippel

Bayreuth: Verrätselter Absturz

Der neue Bayreuther „Ring“ verzichtet weitgehend auf Richard Wagners Inhalte

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 49

Dieses Jahr blieb es nach dem Ende des Sommers 2022 für die immer lebhaft diskutierten Bayreuther Festspiele besonders turbulent. Kulturstaatsministerin Claudia Roth stellte gegenüber der dpa fest: „Die Leitung der Festspiele wird sich in den nächsten Jahren stärker um ihr Publikum bemühen müssen.“ Die Anschaffung der VR-Brillen für „Augmented Reality“-Effekte in der Parsifal-Neuinszenierung (2023) von Jay Schaub musste man vorerst von 2000 auf 200 verringern. Pablo Heras-Casado ist für die musikalische Leitung des Parsifal angekündigt, die Titelpartie singt Joseph Calleja. Zudem wurde nach anonymen Sexismusvorwürfen Mitte Juli im August ein Betreffender freigestellt und nicht mehr eingeladen. Georg von Waldenfels, Vorsitzender des Verwaltungsrats, plädierte für Christian Thielemann, mit dem Katharina Wagner über die Gründung einer Orchesterakademie nachdenkt. Kenner der Szene halten die Diskussion zwischen den konservativen Wagnerianer:innen mit Vorbehalten gegen szenische Innovationen und den zukunftsorientierten Gruppen in Hinblick auf das Vertragsende 2025 und Vertragsverlängerung der Wagner-Urenkelin für nicht ganz belanglos. Pietari Inkinen übernimmt nach der Absage wegen seiner Corona-Infektion 2022 die Ring-Zyklen 2023. Nathalie Stutzmann steht 2023 für Tannhäuser als zweite Frau der Festspielgeschichte nach Oksana Lyniv im Graben. Auch Daniele Gatti wird dort dirigieren.
Publikum und Presse hatten auf die vom Corona-Sommer 2020 auf 2022 verschobene Premiere des Rings des Nibelungen in der Regie von Valentin Schwarz zwiespältig bis gnadenlos reagiert und die musikalische Leistung nur mit Einschränkungen gewürdigt. Nach den Schlussakkorden des dritten Zyklus vom 25. bis 30. August schwiegen viele wie gelähmt: Bilder und Aktionen gaben im sogenannten Netflix-Ring oft schwere Rätsel auf. Der in der Götterdämmerung in der Partitur dargestellte Taumel von Siegfried und Brünnhilde begleitete den Ausbruch des Mannes aus den Fesseln einer abgekühlten Beziehung, Sieglinde war hochschwanger – und das eindeutig nicht vom Zwillingsbruder Siegmund (souverän: Klaus Florian Vogt), wie von Wagner ersonnen.
Valentin Schwarz begründete seine Strategie damit, dass Wagners Ring-Kosmos Ungereimt­heiten enthält. Demzufolge wurden Buhs zu Hilferufen gegen Missverständnisse. Eine Differenzierung vor allem der Frauenfiguren war aufgrund der Outfit-Akkumulationen von Andy Besuch kaum erkennbar. Vieles in Andrea Cozzis Bühnenbild brachte mehr Rätselspaß als Erkenntnisrendite – unter anderem der Rheingold-Kinderhort mit Nachwuchs als wichtigster Zukunftsressource und den Walkürenfelsen als Schönheitsfarm.
Cornelius Meister, der durch Assistenzen bayreutherfahrene, als Vorstellungsdirigent dort ebenfalls debütierende Stuttgarter Generalmusikdirektor, wechselte von der Leitung des Tristan zum kompletten Ring. Das Rheingold-­Vorspiel kam klar und flüssig. Generell gelangen Parlando und Konversationen am überzeugendsten. Weil Meister nicht jede motivische Verästelung der Instrumentenstimmen mit Unüberhörbarkeitsgewicht ausbreitete, hätte das für die Szene Ideenfunken und Bedeutungsspielräume ermöglicht. Aber diese nutzte und füllte Schwarz nur selten. Zum Verhandlungsdialog der Riesen mit Wotan und Loge in Rheingold saßen alle anderen in Reihe und schauten belanglos. Eine ähnliche Leere stellte sich in Mimes Wohnecke und beim Betrugsmanöver Hagens an Siegfried mit daraus resultierenden Längegefühlen ein. Brillant gerieten die pastoralen Inseln der Rheinfahrt in Götterdämmerung und viele Parlando-Stellen. Anderes ließ Nachdruck vermissen – wie das Abnabelungsgeplänkel des von Andreas Schager mit kräftigem Draufgängertum ausgestatteten jungen Siegfried gegen Arnold Bezuyen als seinem etwas fahlen Erziehungsberechtigten Mime. Solche Nüchternheiten bewirkten, dass der sonst selbstverständlich wachsende Span­nungssog bis zum Orchesterepilog vor leerem Swimmingpool in der Götterdämmerung flach und flau wurde. Die früher im Festspielhaus exzellente Textverständlichkeit befand sich auf einem gefährlichen Tiefpunkt. Mit Hilfe des Dirigenten kam Stephen Gould in kurz gehaltenen Silben und weggelassenen Spitzentönen durch Siegfrieds Erzählungen. Bewusstes und melodisch austariertes Singen war selten, kam vor allem von der phänomenalen Christa Mayer als First Lady Fricka und Kokserin Waltraute, von den Bässen Georg Zeppenfeld als Hunding und Wilhelm Schwinghammer als Fafner. Tomasz Konieczny klang bei den Wagner-Tagen Budapest im Juni markanter und kantabler.
Der Luxuskarossen-Besitzer Fafner in Rheingold ist eine andere Gestalt als der gebrechliche Fafner zwei Abende später in Siegfried. Möglicherweise ist auch Brünnhilde in der Walküre eine andere als Brünnhilde in der Götterdämmerung (Irene Theorin). Sonst gäbe es kaum eine Erklärung dafür, dass ihr stummer Vertrauter Grane (nach Wagners Textbuch das Ross Grane: Igor Schwab) vor seiner Abschlachtung zwar altert, Brünnhilde aber nicht. Auf neue Lösungsangebote von Valentin Schwarz im Sommer 2023 darf man also gespannt sein.