Stolle, Michael

Der Komponist Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz

Ein Meister strenger Schönheit

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2016
erschienen in: das Orchester 09/2016 , Seite 59

Schütz, Silbermann und Bach, Fasch und Stölzel, Wagner-Régeny und Berg – sie alle hatten Beziehungen zum Fürstenhaus Reuß, einem der ältesten und das kleinste in Thüringen. Und mit Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1855-1910) hat auch selbst ein Familienmitglied der jüngeren Linie zur Notenfeder gegriffen, ist schöpferisch tätig geworden und seinem Schaffensdrang gefolgt.
Er wurde auf dem Hofgut Trebschen in Brandenburg geboren und verbrachte dort sowie in Wien und Ernstbrunn die Kindheit. Als fast Dreißigjähriger hatte er seine „standesgemäßen Pflichten“ erfüllt (Major à la suite bei den preußischen Husaren, Promotion zum Dr. jur.) und die Erlaubnis seines Bach und dem Klavier zugetanen Vaters zur „Kür“ erhalten, der sich etwa 40 Werke (sechs Sinfonien, Klavierstücke, Kammermusik, Lieder und Chormusik) verdanken. Sie wurden gedruckt, die Aufführungen fanden Resonanz und ihr Schöpfer Erwähnung und Würdigung in der Fachliteratur (1890 Otto Neitzel, Neue Musik-Zeitung; 1901 Hugo Riemann, Musikgeschichte). Und obgleich ihm die Verwaltung der Familiengüter in Köstritz und Ernstbrunn oblag und er seine Frau Elisabeth und die fünf Kinder liebevoll umsorgte, war der Komponist weder Dilettant noch Amateur. Heinrich von Herzogenberg hat ihn unterrichtet, Brahms und Joseph Joachim haben ihn beraten und gefördert. Wagner blieb ihm suspekt!
Seit 1987 hat sich Michael Stolle intensiv mit dem Leben und der Musik von Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz beschäftigt und als Dirigent und Pianist Werke aufgeführt. Nun legt er die erste Buchveröffentlichung vor und wagt den großen Wurf, um dem fürstlichen Komponisten ein attraktives Tableau und den angemessenen Auftritt zu verschaffen – als Kleinmeister, gar als Epigonen will er ihn nicht sehen! Er legt den Fokus auf die Rolle und Geschichte der Reußen in der deutschen Kleinstaaterei, und er beschreibt die Wohnorte Schloss Ernstbrunn und Schloss Köstritz ebenso anschaulich wie die Lebenskreise des Prinzen – Wien, Dresden, Leipzig und Gera –, seine Freundschaften, Reisen und familiären Verbindungen sowie die Musikzentren, in denen er Anregungen und Ermutigung und sein Schaffen Widerhall fand und in denen er seine Sinfonien selbst dirigiert hat.
Akribisch stellt Stolle die melodienreichen, beseelten und formschönen Kunstwerke vor, ebenso deren Traditionsbezüge, Eigenart und Rezeption, und er ordnet sie stilistisch zwischen Romantik und Jahrhundertwende ein. Erstmals publiziert werden Briefe an Joachim und den Dirigenten Richard Barth sowie umfangreiche Auszüge aus den liebevollen Erinnerungen der Töchter Regina und Sibylle, die zusammen mit vielen Bildern und Notenbeispielen die Fülle der Fakten durch Farbigkeit und Atmosphäre bereichern.
So wird das aufwendig und ansprechend gestaltete Buch letzthin zu einem von Enthusiasmus und Engagement getragenen Plädoyer für die Wiederentdeckung des Komponisten. Und zumindest in den „reußischen Residenzstädten“ Gera und Greiz haben sich nicht nur die Orchester schon längst auf den Weg gemacht…
Eberhard Kneipel