Michael Stolle
Der Komponist Gerd Natschinski
Musical, Filmmusik und Schlager in der DDR
Gerd Natschinski (1928-2015) war mehr als der Schöpfer von Mein Freund Bunbury, Messeschlager Gisela (für das DDR-Fernsehen verfilmt von Erwin Leister) und des Filmmusicals Heißer Sommer (2018 ein großer Erfolg im Naturtheater Greifensteine/Erzgebirge). Doch in den alten Bundesländern gelang es nicht, seine Musicals im Repertoire zu verankern. Natschinskis eigenes künstlerisches Vermächtnis droht wie das seiner Operetten- und Musical-Mitstreiter Guido Masanetz, Gerhard Kneifel und Conny Odd mit der abebbenden Ostalgie-Welle zu entschwinden. Deshalb ist die Biografie von Michael Stolle, des einstigen Geraer Kapellmeisters und Dozenten an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, ein wichtiges Unterfangen, auch wenn die Fülle des Materials weitaus größeren Respekt fordert als nur eine stellenweise flache Aufarbeitung.
Stolles Schrift bündelt eine Vielzahl von Fakten, Bildmaterial, Notenbeispielen und Inhaltsangaben zu Natschinskis Bühnenwerken, seinen vertonten Filmen (z.B. Der Mann, der nach der Oma kam) und seiner Chansons für Größen wie Gisela May. Stolle liefert einen groben Abriss der in der DDR entstandenen Operetten und Musicals, eine Liste der Komponisten und Titel und weist auch auf eigene Natschinski-Dirigate in Ost und West hin. Dazu sammelte er buntes Bildmaterial (Plakate, Programmhefte) und Fotos. Neben Gesprächsaufzeichnungen mit dem Rockmusiker Thomas Natschinski, Sohn des Komponisten aus erster Ehe, und Dokumenten von Natschinskis kurzem Kontakt mit Hanns Eisler ist der Geehrte auf den ausgewählten Fotografien aber nur selten mit privaten oder beruflichen Bezugspersonen zu sehen.
Lesern geht es bei der Lektüre wie bei einer Revue oder einem Film, in dem man die Hauptfigur hinter der Materialschlacht mit Dekors und Details stellenweise aus den Augen verliert. Die Dynamik der langjährigen Partnerschaft Natschinskis zu seinen bewährten Textdichtern Helmut Bez und Jürgen Degenhardt wird ebenso wenig plastisch wie die über Jahrzehnte dauernde künstlerische Kollegialität mit Eva-Maria Hagen vom Film Messeschlager Gisela bis zum TV-Musical-Mehrteiler ABC der Liebe, in dem Nina Hagen als Tanz-Elevin debütierte.
Der enthusiastische Autor hat alle im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau verfügbaren Teile von Natschinskis Nachlass gesichtet. Zitate aus seinen Lebenserinnerungen, die er in Ausschnitten ausgewählten Personen noch vor seinem Tod übermittelte, werden von den Rechteinhabern des Nachlasses jedoch nicht gestattet. Gundula Natschinski, die Witwe des Komponisten aus zweiter Ehe, hält es nicht für ausgeschlossen, dessen Memoiren selbst zu veröffentlichen.
Die in Eile entstandene Biografie weckt Neugier auf das Nicht-Gesagte. Dabei geht es nicht nur um politische Hintergründe, sondern viel mehr um Anreize zur Pflege eines Gesamtwerks, das heute weitaus mehr Relevanz hätte als nur verharmlosenden Ostalgie-Charme.
Roland Dippel