Wald-Fuhrmann, Melanie / Christiane Wiesenfeldt (Hg.)

Der Komponist Friedrich Ludwig Æmilius Kunzen (1761-1817)

Gattungen, Werke, Kontexte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Köln 2015
erschienen in: das Orchester 01/2016 , Seite 70

Der Lübecker Komponist Friedrich Ludwig Æmilius Kunzen wurde von seinen beiden großen Zeitgenossen Haydn und Mozart sehr geschätzt. Die beiden Herausgeberinnen Melanie Wald-Fuhrmann und Christiane Wiesenfeldt haben sich die größte Mühe geben, Kunzen der Vergessenheit zu entreißen. Immerhin schrieb der Kapellmeister am königlichen Hof in Kopenhagen drei Opern, 16 Singspiele, Schauspielmusiken, Ouvertüren, drei Sinfonien, Chor-, Kammer- und Klaviermusik. Er war ungemein fleißig. Doch die Zeit ging über ihn hinweg. Er wurde vergessen – nur in Däne­mark und in Lübeck sind Aufführungen seiner Werke bis heute etabliert.
Wer war dieser Komponist und Dirigent des 18. Jahrhunderts? Kunzens Großvater und Vater waren Organisten an der Marienkirche in Lübeck. Der Enkel/Sohn sollte jedoch Jurist werden, doch Musik wurde zum Leitstern für seine berufliche Entwicklung. Er ging nach Kopenhagen. Dort entstand 1789 unter seiner Leitung die erste dänische Oper Holger Danske, die eine lebhafte Diskussion über Theater und die politische Dimension der Oper auslöste. Die Folge: Kunzen musste Kopenhagen verlassen, wechselte nach Berlin, anschließend nach Frankfurt, wo er das neue National-Theater musikalisch leitete. In der Stadt am Main heiratete er die Opernsängerin Johanna M. A. Zuccarini. Ihn zog es weiter nach Prag (Operndirektion), bis ihn der erneute Ruf nach Kopenhagen (ab 1795) erreichte. 1809 wurde er dort zum Professor ernannt, zwei Jahre später wählte man den deutschen Musiker in die Königlich Schwedische Akademie. 1817 erlitt er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er starb. Zu der Zeit war ein Opus von ihm der Chor-Hit: Halleluja der Schöpfung lautete der Titel des Oratoriums, das zwei Jahre vor Joseph Haydns Schöpfung von ambitionierten Chören einstudiert wurde.
Der Vergessenheit entrissen wurde Kunzen durch ein Symposion in Lübeck 2011. Das Buch unterstreicht das Wirken von Kunzen in ganz unterschiedlichen Musikrichtungen: Siegfried Oechsle untersucht die „Moll-Potenziale“ im Schaffen dieses Komponisten, Melanie Wald-Fuhrmann nimmt sich das Liedschaffen vor, Jens Hesselager analysiert das musiktheatralische Programm in Kopenhagen im 19. Jahrhundert (in englischer Sprache), Heinrich W. Schwab thematisiert am Beispiel des Oratoriums Opstandelsen (1796) die religiöse Farbe im Œuvre, Joachim Kremer widmet Kunzens Kantate zum Jahrhundertwechsel ein spannendes Kapitel, Michaela Kaufmann arbeitet sich in die Dramaturgie des Winzerfestes ein, einer der größten Erfolge des Deutsch-Dänen usw.
Das Buch schließt eine Informationslücke. Ob Kunzens Werke dadurch künftig öfter in Deutschland aufgeführt werden, bleibt offen. Seine Singspiele, Hymnen und Lieder oder Sinfonien können aber im Vergleich mit Zeitgenossen durchaus auch heute noch bestehen. Das klassisch orientierte, frühromantische Musikleben um 1800 spielte sich eben nicht nur in den Metropolen wie Paris, London, Berlin, Prag oder Wien ab… Die Musikstadt Kopenhagen wäre um jene Zeit durchaus eine Reise wert gewesen. Dank Kunzen, der auch als Pianist und Cembalist beeindruckte, und seinen vorzüglichen Kontakten in Richtung Lübeck, Frankfurt und Berlin.
Jörg Loskill