Joachim Mischke

Der Klassik-Kanon

44 Komponisten, von denen man gehört haben muss

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hoffmann und Campe, Hamburg 2020
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 66

Was macht ein ansonsten viel beschäftigter und versierter Kulturredakteur, wenn es durch den Corona-Lockdown nichts zu berichten oder rezensieren gibt, einfach weil alle Theater und Konzertsäle geschlossen sind? Richtig: Er schreibt ein Buch. So manches womöglich aufgeschobene Wunschprojekt hat durch die Pandemie-Zwangspausen im Jahr 2020 offenbar einen Schub erfahren.
Joachim Mischke ist als Redakteur des Hamburger Abendblatts schon eine Instanz im Norden. Und es ist nicht sein erstes Buch – vielleicht aber eines seiner kurzweiligsten. Kein Komponistenlexikon, sondern eine richtig schön subjektive Auswahl quer durch die Musikgeschichte, und zwar nicht nur die Namen der üblichen Klassik-Verdächtigen, sondern eben auch Cage, Weinberg oder Glass. Somit ist das eine Neudefinition dessen, was man heute unter einen „Klassik-Kanon“ subsummieren sollte. Und das ist eben mehr als Mozart, Haydn und Beethoven (kommerzielle Klassikveranstalter und konservative Programmmacher mögen hier vehement widersprechen). Mischke selbst zu seiner Auswahl der 44 Namen: „Sie alle waren spannende Charaktere und faszinierende Persönlichkeiten. Sie alle haben großartige und wegweisende Musik geschrieben.“
Inklusive Abbildung bekommt jeder Komponist auf sechs Seiten sein Porträt. Nicht streng chronologisch, sondern in einer sehr lebendig und abwechslungsreich geschriebenen Mischung aus Biografie, Werk und Lebenszusammenhängen mit einer Fülle von Querverbindungen. So kann nur jemand schreiben, der sich wirklich auskennt. Da sich das Buch sowohl an Einsteiger wie Fortgeschrittene richtet, sind die möglichen Bandbreiten von Informationsdichte und -tiefe geeignet für eine echte Gratwanderung, die aber sehr gut gelingt. Wer weiß heute noch, dass Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel zu Lebzeiten wesentlich prominenter war als der Vater? Oder dass Carlo Gesualdo ein Kapitalverbrechen begangen hat, aber auch durch seine großartige Musik in Erinnerung geblieben ist? Oder welche stilistischen Verbindungen zwischen der Musik von Mieczysław Weinberg und den Werken von Mahler oder Schostakowitsch bestehen?
Am Ende jedes Porträts gibt es vier Rubriken: „Die Einstiegsdroge“ und drei variierende Rubriken wie „Das typischste Stück“, „Für Fortgeschrittene“, „Der originellste Titel“, aber auch „Eine von vielen tollen Opern“ oder einfach nur „Himmlisch“ (für den Elias von Mendelssohn). Da findet jeder Leser etwas Bekanntes, Ungewöhnliches oder Überraschendes, sucht spontan eine passende Aufnahme von den Vorschlägen. Diese Mischung macht’s. Vor allen Dingen macht sie Lust, sich mit dem einen oder anderen Werk oder dem Porträtierten näher zu befassen. Was kann man von einem Buch mehr erwarten?
Aufgelockert wird das Ganze durch Illustrationen von Lucia Görtz, jeweils mit einem treffenden Zitat zum Gesicht. Insgesamt ein sehr schönes Buch, das man gerne in die Hand nimmt und das Einsteiger ebenso erfreut wie Fortgeschrittene.
Gerald Mertens