Volker Hagedorn

Der Klang von Paris

Eine Reise in die musikalische ­Metropole des 19. Jahrhunderts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt
erschienen in: das Orchester 07-08/2019 , Seite 60

Am Anfang steht ein junger Mann im Anatomiesaal, das Sezierbesteck in Händen, und schmettert eine Opernarie. Wie es dazu kam, beschreibt Volker Hagedorn im ersten Kapitel seines Buchs Der Klang von Paris. Der junge Mann ist Hector Berlioz, der 1821 in Paris ein Medizinstudium aufnimmt und damit dem Drängen seines Vaters folgt. Die Leidenschaft des jungen Mannes jedoch gehört der Musik, schon als Jugendlicher hat er kleine Stücke komponiert. In der französischen Hauptstadt hört Berlioz die erste Oper seines Lebens: Les Danaїdes von Antonio Salieri. Das Werk ist damals schon knapp vierzig Jahre alt, doch versetzt es Berlioz in rauschhafte Begeisterung. Und so kommt es, dass er im eisigen Anatomiesaal steht und aus voller Kehle die Arie „Jouissez du destin propice“ singt, während er einen Schädel aufsägt.

Eine geradezu filmreife Szene ist das, ein Einstieg, der auch einen historischen Kriminalroman eröffnen könnte. Das Ganze hat sich Hagedorn aber nicht ausgedacht, sondern aus Berlioz’ Memoiren übernommen. Den Schöpfer der Symphonie fantastique hat sich Hagedorn als Protagonisten auserkoren, der den Leser in das Paris zwischen 1821 und 1867 führt. In dieser Zeit stieg die Stadt zur „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ auf, so Walter Benjamin in seinem Passagenwerk. Doch der habe dabei Musiker und Musik in der Stadt weitgehend „ignoriert“, kritisiert Hagedorn in der Nachbemerkung. Dabei seien diese „Seismographen ihrer Zeit nicht weniger als die Literaten“.

Das zu verdeutlichen, gelingt Hagedorn, dessen Buch Bachs Welt bereits die Fachwelt begeisterte, erneut auf fesselnde Weise. Er bietet eine Mischung aus Künstlerroman, Sozial-, Kultur- und Musikgeschichte der Stadt Paris sowie aus reportagehaften Elementen, in ­denen er in das Paris von heute springt – das Buch taugt auch als Stadtführer. Die Wechsel der Ebenen gelingen ihm elegant, was das Lesen zu einer kurzweiligen Angelegenheit macht, amüsant und lehrreich. Hagedorn schreibt mit leichter Hand, aber nie oberflächlich, sein Stil hat Schwung, mehr als das, nämlich oft auch Poesie. Respekt nötigt seine Kunst ab, Musik schwärmerisch zu beschreiben, ohne je in Kitsch zu verfallen. Gleichzeitig verliert er nie die Bodenhaftung im historischen Detail; der umfangreiche Anmerkungs­apparat legt Zeugnis davon ab.

Zu Beginn reist der junge Berlioz mit der Kutsche nach Paris, am Ende, 1867, mit dem Zug, ein Sinnbild für den enormen technischen Fortschritt, der gerade in der Met­ropole an der Seine am prägnantesten zu beobachten ist. Doch zoomt der Autor in den sieben Kapiteln immer wieder auch andere Figuren heran: Liszt, Chopin und George Sand vor dem Hintergrund der großen Choleraepidemie 1832, den jungen Wagner und Heine, zusammen Austern schlürfend, während man Bestürzendes über die zunehmende Armut in der Stadt erfährt, den Fotografen und Erfindergeist Nadar, der den größten Heißluftballon der Welt verwirklicht. Wie der dann zwischen Bremen und Hannover abstürzt, ist erneut filmreif. Lesen – und auf nach Paris.

Mathias Nofze