Julian Caskel (Hg.)

Der Karajan-Diskurs

Perspektiven heutiger Rezeption

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 63

„Und Karajan. Ich weiß, er begeistert die Massen. Coca-Cola auch.“ So formulierte es einst Sergiu Celibidache – geäußert 1979 als vermeintlich lapidar daher gesagtes und doch vielsagendes Urteil über seinen „ewigen Konkurrenten“ in der Münchner Abendzeitung. Es ist eines von etlichen Zitaten, Originaltönen und Ondits über die 1908 in Salzburg geborene Ausnahmeerscheinung, die „eingetragene Marke“ Herbert von Karajan.
Ihm widmete sich ein 2010 an der Universität Köln durchgeführter Kongress mit dem Thema „Der Karajan-Diskurs“. Julian Caskel ist es zu verdanken, dass die damals gehaltenen Fachvorträge nun in lesenswerter Form veröffentlicht und gebündelt wurden. 22 aus dem musikwissenschaftlichen Umfeld kommende Aufsätze beleuchten darin das Spektrum der „Persönlichkeit Karajan“ mit immer anderen Scheinwerfern – ein Verfahren, das nach dem Lesen nichts als erkenntnisreiche Genugtuung über einen Mann hinterlässt, dessen Tonträger und Fernsehproduktionen für lange Zeit und in vielen Konsumentenschichten schlicht als „Goldstandard“ angesehen wurden.
Drei inhaltliche Blöcke sind es, die dabei Ordnung schaffen: Karajan als neuartiger „multimedialer“ Künstler; der in Berlin agierende Österreicher Karajan mit seinem Verhältnis zur französischen, böhmischen und russischen Musik sowie Karajan und seine Antipoden Furtwängler, Mengelberg, Scherchen, Bernstein und Celibidache. Aus Platzgründen können hier nur einige dieser durchweg fundierten Texte herausgehoben werden.
So schreibt Dietrich Steinbeck sehr persönlich, sehr ehrlich und auch sehr kritisch über die „Berliner Krise“ zu Beginn der 1980er Jahre und klärt auch die letzten Zweifler über die Unschuld Sabine Meyers beim Zwist mit den Berliner Philharmonikern auf. Martin Elste gelingt es, sehr plastisch zum Kern des Dirigierens vorzudringen, indem er die „musikalische Megamaschine Symphonieorchester“ seziert. Florian Kraemer trägt einen tief ausgeloteten Vergleich zwischen dem „Medienstar Karajan“ und seinem Antipoden Sergiu Celibidache bei, der sich ja lange Zeit gegen die Herstellung von Tonträgern sowie deren Vermarktung gewehrt hat.
Als Krönung muss Hermann Danusers Zusammenfassung angesehen werden: Seine „Ekphrasis eines Dirigenten“ summiert sprachlich brillant alle Einzeluntersuchungen. Etliche andere Beiträge befassen sich akribisch mit Interpretationsvergleichen symphonischer Standardwerke nach der Formel „Karajan versus X“. Gelegentlich stören dabei allzu detailliert aufbereitete Fakten. Und auch manche Tabelle und Grafik lässt erkennen, dass sie eher als Anschauungsmaterial eines Vortrags gedacht war.
Das alles ändert indes nichts an der Tatsache, dass Caskels Buch zum Muss werden könnte, denn noch nie ist eine schillernde Person so sachlich, multi-perspektivisch, fundiert, unvoreingenommen und deshalb wahrhaftig in den Blick genommen worden wie der 1989 in seiner Salzburger Heimat verstorbene, letztlich immer einsam gebliebene Herbert von Karajan.
Thomas Krämer