Canal, Anne von

Der Grund

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Mare, Hamburg 2014
erschienen in: das Orchester 03/2015 , Seite 70

Wie oft lässt sich die Larve der eigenen Identität häuten, ohne dass die Identität selbst zuschanden gerät? Welche Folgen hat es, wenn jemand all das verliert, was für ihn höchste Bedeutung hatte: die Musik, das eigene Kind? Um diese Fragen kreist der Debütroman von Anne von Canal mit dem Titel Der Grund.
Erzählt wird die Lebensgeschichte eines in Schweden aufwachsenden Mannes, der, Sohn eines berühmten Arztes und einer ehemaligen Sängerin, Konzertpianist werden möchte, aber aus ihm unerfindlichen Gründen bei der Aufnahmeprüfung zum Konservatorium scheitert. Zutiefst getroffen, fügt er sich dem Befehlswunsch seines omnipotenten Vaters, studiert Medizin und wird Arzt. Er heiratet, wird Vater einer Tochter und erfährt Jahre später durch Zufall, dass es sein auf familiäres Prestige fixierter Vater war, der dafür sorgte, dass seine damalige Bewerbung für einen Studienplatz am Konservatorium abgelehnt wurde. Der Sohn bricht daraufhin die Beziehung zu seinen Eltern ab und zieht mit seiner Familie nach Estland. Als, wiederum einige Jahre später, die Tochter, einer Einladung der Großmutter folgend, allein mit der Fähre nach Stockholm reist, geschieht jenes Unglück, das mit dem Namen der MS Estonia verbunden ist. Nach dem Tod der Tochter trennt sich der Vater von seiner Ehefrau und verdingt sich als Barpianist auf verschiedenen Kreuzfahrtschiffen. Obwohl er mit einer neuen Frau, die er selten besucht, ein Kind hat, vermag er es nicht, sich auf eine feste Beziehung einzulassen.
Chronologisch erzählt die Autorin diese Lebensgeschichte nicht – sie arbeitet vielmehr mit Rückblenden, mischt Erzählformen wie Tagebucheintragungen und Prosa miteinander; stellt sogar einen authentischen Funkverkehrsdialog an den Romananfang. Was in der Erzählung geradezu herausgemeißelt wird, sind die Brüche im Leben der Hauptfigur, Brüche, die mehr sind als bloße Lebenskrisen. Da ist, nach der gescheiterten Prüfung, der radikale Bruch mit der Musik; da ist jener mit dem Vater; jener mit der Tätigkeit als Arzt; jener von der Ehe, jener von der verunglückten Tochter. Am Romanende erfolgt – unter radikal veränderten Bedingungen – die Rückkehr zur Musik. Sie, deren Ausübung man ihm einst untersagte, wird zum einzigen festen Grund in einer haltlos, abgrundhaft gewordenen Existenz, deren Identitätswechsel sich auch in einem Namenswechsel kundtut: Aus Laurits Simonsen wird Lawrence Alexander. Mithin ist der Romantitel Der Grund gut gewählt, weil er die Zerrissenheit der Figur andeutet: Der Vater ist der Grund für das geborstene Leben des Sohnes, die Tochter verliert ihr junges Leben auf dem Meeresgrund und die Grundlosigkeit der eigenen Identität findet einzig in der Musik den Grund dafür vor weiterzuleben. Irgendwie.
Winfried Rösler