Carl Maria von Weber

Der Freischütz

Essener Philharmoniker, Ltg. Tomáš Netopil

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 988
erschienen in: das Orchester 10/2020 , Seite 70

Ein solcher “Freischütz” war vor dem anstehenden Jubiläum zum 200. Jahrestag der Uraufführung am 18. Juni 1821 im Königlichen Schauspielhaus Berlin dringend nötig. Kaum eine der üblichen Erwartungen erfüllt sich: Wenige gesättigte Kantilenen, wenig orchestrale Fülle und noch seltener schönes Auftrumpfen. Zum Glück.
Dafür liefern die scharrenden und mit jedem Oboen-, Klarinetten-, Paukensolo packenden Essener Philharmoniker eine aufrüttelnde Gesamtleistung. Zwischen den Musiknummern legen die knapp und dicht gehaltene Dialoge aus der noch im Repertoire des Aalto-Theaters stehenden Inszenierung von Tatjana Gürbaca das Skelett der „Romantischen Oper in drei Aufzügen“ frei. Das heißt ausdrücklich: Seufzer aus dem Biedermeier unerwünscht. Eine falsch aufgeblasene Sinfonisierung, die Webers Partitur auf einen wagner- oder gar brucknernahen Klang trimmt, unterbleibt. Man hört, mit welcher Lust Weber dieses Nachtstück vertonte, das Friedrich Kind nach der Teufelspakt-Geschichte aus Apels und Launs “Gespensterbuch” aus der eigenen Gegenwart kurz nach der Völkerschlacht von Leipzig in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg und aus der Dübener Heide in die böhmischen Wälder verlegt hatte.
Zwei Szenen sind exemplarisch für das, was Tomáš Netopil mit den fantastischen Musikern anstellt. Der Bauernmarsch am Beginn, das Spottlied Kilians (Albrecht Kludszuweit), der Walzer haben etwas Getriebenes und von derben Aggressionen Durchdrungenes. So geht es weiter: Alle Solisten zeigen sich sicher und ausdrucksstark in Kämpfen mit dem wie toll gegerbten Material: Maximilian Schmitt als von Ängsten getriebener Max und Jessica Muirhead als seine Braut Agathe singen mit kultivierten und auch forcierten Stimmen an gegen Kalamitäten, für die sogar der starke Eremit von Tijl Faveyts in Auseinandersetzung mit Martijn Cornets ungewöhnlich aggressivem Fürsten Ottokar keine Lösung parat hat. Tamara Banješevic als Ännchen artikuliert ihren „gesunden Pragmatismus“ mit nur wenigen auf Schönheit bedachten Tönen.
So wird deutlich, wie Weber den genretypischen Musiknummern und -mustern Doppelsinn gibt. Die Solisten verbeißen sich in die ent-wunschkonzerteten Hits und zeigen so die Erschütterungen der Figuren. Zwangsläufig singt Heiko Trinsinger als Schurke Kaspar seine beiden Solonummern und in der Wolfsschlucht mit düster-souveräner, fast verführerischer Eleganz. Diese Wolfsschlucht-Szene wird zum Extrem- und Höhepunkt einer düsteren, verkehrten und deshalb richtigen Welt, weil Netopil die zielsicher ins Fortissimo einlaufenden Crescendi unterlässt. Die geflüsterten Einwürfe Samiels kommen mehrstimmig wie innere Stimmen der Figuren. Das hat Einfluss auf so manche vokale Phrasierung.
Dieser “Freischütz” also attackiert mit Überraschungen, wie sie die Anwesenden der ersten Aufführungen empfunden hatten. Chor und Extrachor unter Leitung Jen Bingerts machen beeindruckend mit. Jäger- und Brautlied sind in diesem Mitschnitt von Deutschlandradio wichtiger Teil eines intensiven Dramas.

Roland Dippel