Carl Maria von Weber

Der Freischütz

Zürcher Sing-Akademie, Freiburger Barockorchester, Ltg. René Jacobs

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Harmonia Mundi HMM
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 64

Mit seiner Freizügigkeit der Gestaltung kommt René Jacobs’ Lesart dem Originalklang von Webers Partitur näher als viele akademische Buchstabierübungen. Die vom Dirigenten selbst veränderten Dialoge, in denen der böse Dämon Samiel zu einer psychischen Abspaltung des Jägerburschen und Söldners Kaspar wird, ist wirkungsvoll und wird von der zutiefst packenden musikalischen Durchdringung trotzdem in den Schatten gestellt.
Das Freiburger Barockorchester klingt oft knarzig und seltener betörend, oft schwer und selten berührend. Schon in der Ouvertüre springt die Naturhaftigkeit aus den Tönen, wechseln Schroffes, Kaltes, Volksliedhaftes und Aufgerautes. Webers schon bei der Uraufführung 1821 im Königlichen Schauspielhaus Berlin erkanntes Verfahren, möglichst viele Solo-, Szenen- und Nummerntypen des Musiktheaters seiner Zeit zu verwenden, wird hörbar – ebenso wie die Schärfen, Härten und gleißenden Naturlaute, wie er sie mit seinen exponierten Instrumentationseffekten zum drohenden Klingen bringt. Das scheinbar Pastorale und die Schauerelemente erhalten einen Teil jener Schockwirkung zurück, welche den Sensationserfolg der Oper ausmachten.
Im Jägerchor stört ein herausstechender Tenor die homogene Ensemblewirkung. Kateryna Kasper als Ännchen klingt wie die ältere, erfahrenere und lebenstüchtigere Figur im Vergleich zur blutjung und wirklich naiv wirkenden Agathe von Polina Pasztircsák. Für Maximilian Schmitt ist es bereits die zweite Einspielung der Titelpartie nach der ebenfalls sehr wohlgeratenen, da äußerst dramatischen Aufnahme der Essener Philharmoniker unter Tomáš Netopil. Schmitt ist hier zerbrechlicher, ein Schubert-Stilist in angemessen ­klotziger Umgebung.
Schubert gibt es tatsächlich auch zu hören. Jacobs wunderte es, dass ausgerechnet die vom Erbförster Kuno vorgetragene Erzählung im Gegensatz zu den vielen Balladen-Situationen der deutschsprachigen romantischen Oper ohne Musik blieb. Der noch sehr junge und in der Vaterpartie wie ein Fremdkörper wirkende Matthias Winckler singt Strophen nach Material aus Schuberts Oper Des Teufels Lustschloss. Vertont wurde auch der in manchen Vorstellungen in den letzten Jahre hinzugenommene Dialog des Eremiten mit Agathe am Beginn des ersten Akts. Christian Immler, ein junger und kämpferischer Patriarch, singt sein Gebet in einer raffinierten Umgestaltung von motivischem Material aus dem letzten Finale und Agathes Arien. Diese musikalischen Zusätze und die Kontraste werden nur deshalb nicht zu einer Geduldsprobe, weil Jacobs alle Figuren und ihre im 30-jährigen Krieg aufgegabelten Traumata tödlich ernst nimmt – in erster Linie den düsteren, aber nicht schuftigen Kaspar von Dmitry Ivashchenko. Das leise Grauen durchzieht sogar das Lied vom Jungfernkranz.
Jacobs gelingt mit dem fantastisch spielenden Orchester eine Leistung, welche sich ohne weiteres in die wichtigen Freischütz-Einspielungen von Carlos Kleiber, Nikolaus Harnoncourt und Bruno Weil einreihen kann.
Roland Dippel