Dorothea Seel

Der Diskurs um den Klang der Flöte im 19. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2020
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 74

Als Solistin, Orchesterflötistin und Dozentin ist Dorothea Seel mit alten wie neuen Instrumenten bestens vertraut, und durch ihre repräsentative Flötensammlung weiß sie aus eigener Erfahrung, dass die klanglichen Qualitäten der Klappenflöte, die viele Spieler noch lange nach der Einführung der Böhmflöte daran festhalten ließen, nicht nur Einbildung gewesen sein können.
In ihrem zunächst als Dissertation konzipierten Buch geht es daher um eine historisch fundierte Wiederbegegnung mit dem besonderen Klang der Klappenflöte. Dem geht sie unter drei innerhalb der Kapitel immer wieder neu aufgegriffenen inhaltlichen Kriterien nach: der Konsultation von Flötenschulen der Zeit; einer Auswahl von mehr oder weniger bekannter Musik für Flöte (ein Aspekt, der durch den Bezug auf eine international orientierte Orchesterpraxis in Konzert und Oper noch erweitert wird); und übergreifend der Vorstellung von repräsentativen Flötensolisten auch als Autoren von Schulwerken, Komponisten und Orchestermusiker.
Aus den Flötenschulen der Zeit lässt sich rückblickend die Klangästhetik des alten Instruments erschließen. Die getroffene Auswahl von kommentierten Zitaten aus englischen (Nicholson), französischen (Tulou) und deutschen Schulen (Fürstenau) vermittelt also schon einen direkten Eindruck von der Spielweise und den Eigenschaften der Klappenflöte. Alle Schulen – von Dresslers früher bis zu der nur noch die Böhmflöte berücksichtigenden von Tillmetz – sind gut erreichbar, sodass man die Anregungen selbstständig weiterverfolgen kann. Darüber hinaus wäre es vermutlich auch ein sinnvoller Forschungsansatz, die Flötenschulen der Zeit systematisch auf Ähnlichkeiten, Unterschiede oder nationale Besonderheiten hin zu vergleichen.
Einen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt bilden zahlreiche kleinere Analysen von Flötenmusik und Etüden, zu deren Interpretation die musikalischen Möglichkeiten der alten Flöte ganz explizit den Weg weisen können. Dass ihr Ton in seiner Variabilität des Ausdrucks, in seiner Verschiedenheit der Register zu Recht als Inbegriff des Romantischen wahrgenommen wurde, das wird an Schuberts Variationen D802 eindrucksvoll deutlich. Dass die Böhmflöte mit ihrem Klangideal der Ausgeglichenheit deshalb oft heftig abgelehnt wurde, versteht man danach besser.
In diesem Zusammenhang war es dann naheliegend, die Rolle der Flöten im Orchester zu thematisieren, wie es hier für musikalische Zentren wie Wien, Dresden, London, Paris, München und Leipzig ausführlich geschieht. Der Blick darauf beginnt mit Webers Freischütz (1821) und der 9. Symphonie von Beethoven (Wien 1824); er endet, nach der Besprechung von Schubert und Brahms, mit Mahlers erster Sinfonie wieder in Wien, wo in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts immer noch alte und neue Flöte nebeneinander gespielt werden. Die romantische Flötenliteratur gehört heute auch, aber eben nicht nur der Böhmflöte. Nach der Lektüre dieses empfehlenswerten Beitrags zur noch wenig erforschten romantischen Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts lässt sich dieser Gedanke gut nachvollziehen.
Ursula Pešek