Herr, Corinna /Arnold Jacobshagen / Kai Wessel (Hg.)

Der Countertenor

Die männliche Falsettstimme vom Mittelalter zur Gegenwart

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: das Orchester 04/2013 , Seite 65

Die Sammlung aus der Reihe „Schott Campus“ vereinigt die Beiträge der internationalen wissenschaftlichen Tagung „Gegen | Tenöre – Die männliche Falsettstimme von der Frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert“, die Ende 2009 an der Katholischen Akademie in Schwerte in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln stattfand. Tatsächlich spielt die Stimmlage des männlichen Falsettisten in der heutigen Aufführungspraxis sowohl alter als auch neuer Musik eine wichtige Rolle – und fand in der deutschsprachigen Musikforschung bis dato noch keine ausreichende Darstellung. Diese Lücke schließt dieses Buch.
Als eine besondere Stimme im mehrstimmigen Satz, und zwar als Gegenstimme zum Tenor, wurde der Countertenor bereits vor 1600 bei Tinctoris beschrieben. Über Ambitus und Lage wurde allerdings nichts
berichtet. In der Zeit der Chortradition der englischen Kathedralen wurde der Countertenor zunehmend wichtiger. Hier handelt es sich inzwischen nicht mehr um die Kontra-Stimme zum Tenor allein, sondern um die Beschreibung des männlichen Altus als hohe Männerstimme, „falsetto“ genannt, die aber nicht immer eingesetzt wurde. Mit dieser Vermischung der historischen mit der ästhetischen Bewertung setzten die Urteile ein, wie wir sie z.B. bei Bernhard von Clairvaux und John of Salisbury finden, die den Contratenor als sexuell zweifelhaft, zügellos, moralisch gefährlich und sogar blasphemisch beschreiben. Zu dieser Diskussion kam es, weil in dieser Zeit Chöre rein männlich besetzt waren und durch diese besondere Gesangsart ein weibliches Element der Kirchenmusik hinzugefügt wurde, das nach damaliger Auffassung dort nichts zu suchen hatte. So bekannt der Begriff war – sogar Geoffrey Chaucer nennt ihn im 14. Jahrhundert in seinen Canterbury Tales–, so selten wurde er gebraucht. Natürlich werden in diesem historischen Abriss auch Sänger wie Alfred Deller und Frederic Hodgeson ausführlich behandelt.
Wenn Männer weibliche Stimme imitieren, ändert sich deutlich der Klangcharakter im Unterschied zur normalen männlichen Sprechstimmlage. Solche Klangänderungen werden bewusst beim Jodeln, in der Rock- und Popmusik und in der klassischen Musik durch die Besetzung mit männlichen Altisten eingesetzt. Eine gründliche Beschreibung der unterschiedlichen Register erklärt die Begriffe Strohbass, Modalstimme, Falsett und Voix mixte. Von Jahrhundert zu Jahrhundert werden die unterschiedlichen Schwerpunkte und Verwendungen der Altus-Stimme beschrieben.
Die Artikel in englischer und deutscher Sprache bieten einen historisch lückenlosen Überblick über die Entwicklung und den Einsatz des Countertenors. Ein Interview von Kai Wessel mit der Komponistin Isabel Mundry, die in ihrer Oper Ein Atemzug – die Odyssee vier Partien speziell für Kai Wessel komponiert hat, rundet den interessanten musikhistorischen Streifzug ab.
Annette Brunsing