Alexander Grün/Anatol Stefan Riemer/Ralf Oliver Schwarz (Hg.)
Der „andere“ Offenbach
Sehr zu Recht schreibt Ralf-Olivier Schwarz, einer der Herausgeber des Buchs und Autor einer erst kürzlich erschienenen, maßstabsetzenden Offenbach-Biografie: „Offenbach ist vielleicht der am stärksten mit Klischees behaftete Komponist der Musikgeschichte.“ Man denke nur an die Fehleinschätzung des Höllengalopps aus der Opéra bouffon Orphée aux Enfers als „Cancan“ oder der „Barcarole“ aus Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann als musikalische Venedig-Ikone. Die Offenbach-Rezeption ist voller Missverständnisse und zudem reduziert auf nur einen kleinen Teil des enormen Œuvres eines „der produktivsten und innovativsten Musikdramatikers des 19. Jahrhunderts“. Auf diesen „anderen“ Offenbach „jenseits der Welterfolge der großen Opéras Bouffes“ aufmerksam zu machen, „die Werke in den Blickwinkel zu nehmen, denen bislang nur allzu selten Aufmerksamkeit zuteil wurde“, war das Anliegen eines Symposiums, das im Vorfeld des 200. Geburtstags des Komponisten 2018 in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main abgehalten wurde. Auf den Vorträgen der elf Autoren des Symposiums basieren die Beiträge des Buchs, die zwei Schwerpunkte aufweisen: „zum einen Offenbachs Schaffen vor seinen großen Erfolgen der 1850er und 1860er Jahre, zum anderen Offenbachs häufig vergessene oder zumindest übersehene große Werke nach 1870 bzw. jenseits des Zweiten Kaiserreichs“, so die Herausgeber. Von theaterhistorischer Bedeutung sind beispielsweise Jean-Claude Yons Auslassungen über „Offenbachs andere Theater“, also der unzähligen anderen Bühnen jenseits der Bouffes-Parisiens oder des Théâtre des Variétés, an denen der Komponist wirkte. Hochinteressant ist auch der Beitrag von Frank Harders-Wuthenow über die patriarchatskritische und emanzipatorische Rolle der Frau in Offenbachs Werken. Auf das bisher kaum wahrgenommene Genre seiner Lieder macht Elisabeth Schmierer aufmerksam. Ralf-Olivier Schwarz weist auf die kaum zu überschätzende Prägung der Musik Offenbachs durch den Kölner Karneval hin und Niclas Esser gibt einen aufschlussreichen Einblick in die gegenwärtige Situation der bedeutendsten Offenbach-Sammlung (im Historischen Archiv der Stadt Köln), zehn Jahre nach dem Einsturz des Archivgebäudes. So erweist sich diese Publikation nach denen von Heiko Schon (Jacques Offenbach – Meister des Vergnügens), Ralf-Olivier Schwarz (Jacques Offenbach. Ein europäisches Porträt), Peter Hawig (Musiktheater als Gesellschaftssatire. Die Offenbachiaden und ihr Kontext) und Laurence Senelick (Jacques Offenbach and the Making of Modern Culture) als vorerst krönender Abschluss der Buchneuerscheinungen im Offenbach-Gedenkjahr.
Dieter David Scholz