Heide Stockinger/Kai-Uwe Garrels (Hg.)
„Dein ist mein ganzes Herz”
Ein Franz-Lehár-Lesebuch
Diese Buchgabe zum 150. Ehrentag des am 30. April 1870 in Komorn, Österreich-Ungarn (heute: Komárno, Slowakei), geborenen Franz Lehár spiegelt auch die liebevolle Anhänglichkeit ihrer Autoren für einen Komponisten, der mit Tantiemenerlösen und Aufführungs- zahlen sogar Richard Strauss leichtfüßig übertrumpfte. Dabei hätte eine objektivierende Haltung zu einigen hartnäckig bewahrten Stereotypen über Lehár in Bad Ischl oder aus dem Entstehungsumfeld späterer Werke wie “Friederike”, Lehárs Singspiel über eine Liebelei Goethes, und die an der Wiener Staatsoper 1934 uraufgeführte “Giuditta” sogar Operettenverächter zum genaueren Blick auf den gern Geschmähten verführen können.
Wolfgang Lakner, lange Zeit Intendant des Lehár Festivals in Bad Ischl, plädiert für eine Operettenreform mit Mut zu aktualisierten und spielfreudigen Sichtweisen, wie er sie für die bis heute in ihrem Hybridanspruch noch nicht angemessen gewürdigte “Zigeunerliebe”, die von ihm in ein jüdisches Umfeld versetzte “Blaue Mazur” und den oft belächelten “Zarewitsch” realisiert hat. Wolfgang Dosch rehabilitiert Lehár von dem Vorwurf einer Anpassung aus innerer Überzeugung an die Ideologie der braunen Machthaber nach der Annexion Österreichs. Nur unwillig gab Lehár, der aufgrund seiner Ehe mit der seinethalben zur „Ehrenarierin“ ernannten Jüdin Sophie Meth, geb. Paschkis, erpressbar war, die Zustimmung zur arisierten Bearbeitung seines Frühwerks “Der Rastelbinder”. Noch ambivalenter wird eine moralisierende Verwerfung, weil Lehár durch massiv verzögernde Einwände darauf einzuwirken vermochte, dass die ebenfalls jüdische Ehefrau seines Bearbeiters Rudolf Wey dem Zwangseinzug zum Arbeitsdienst entkam. Die Argumentation an die Behörden lautete: Gerda Wey sei als Assistentin, Hausfrau und Mutter unentbehrlich, wenn Rudolf Wey die von der Bearbeitungsstelle forcierte Neufassung des “Rastelbinder” fristgemäß vollenden solle.
Einen vertieften Einblick in die Freundschaft mit Richard Tauber bieten die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in London entstandenen Erinnerungen Taubers – mit respekt- vollen Anmerkungen von Kai-Uwe Garrels zu Stellen, bei denen der als Lehárs “Paganini” und im “Land des Lächelns” vielbeschäftigte Tenor nicht allzu genau war.
Fast mehr noch als für die Eigentümer der Schikaneder-Villa in Wien-Nussdorf, welche nach Franz Lehárs Tod am 24. Oktober 1948 von seinem Bruder Anton bis 1962 bewohnt wurde, interessierte sich Heide Stockinger für Hermine Kreuzer, die sich seit über 50 Jahren mit knapp kalkuliertem wirtschaftlichen Aufwand für Erhalt, Pflege und Konzert-Bespielung der Villa einsetzt.
Ganz kommt man bei Lehár am letzten Strahlen der Donau-Doppelmonarchie nicht vorbei. Doch in diesem Lesebuch geht es vor allem um den heute unbekannten, in den Zeitläufen seiner Altersjahre verstrickten Lehár und um überzeugende Plädoyers für Partituren, die nicht länger im Schatten der “Lustigen Witwe” und des “Grafen von Luxemburg” stehen sollten – vor allem die einzigartige “Zigeunerliebe”.
Roland Dippel