Marco Frei

Davos: Das große Flunkern

Beim Davos Festival in Graubünden ging es um „Märchen, Lügen, Traumwelten“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 48

Er hat es nicht einfach. Sein Start 2020 als neuer Leiter des Davos Festivals fällt in Zeiten einer Pandemie, die noch nicht vorüber ist, und eines Angriffskriegs mitten in Europa mit kaum absehbaren Folgen. Trotzdem gelingt es Marco Amherd, eigene, bleibende Akzente zu setzen. In Davos wird das jeweilige Festival-Motto ernst genommen, aber ohne den moralinsauren Zeigefinger zu heben – wohltuend spielerisch, auch humorvoll und sinnlich, verlebendigt mit aufregenden Nachwuchskräften.
Auch das diesjährige Festival tat im besten Sinn weh und not, allerdings gerade dort, wo man es am wenigsten vermuten würde. Diesmal drehte sich alles um „Märchen, Lügen, Traumwelten – das ganze Geflunker“ eben. Natürlich gab es auch von Märchen, Legenden oder Mythen inspirierte Werke zu hören. Die eigentlichen Fragen gingen indes weit darüber hinaus: Was ist Sein und Schein, Fake und Fakt? Kann auch Musik flunkern, und wie tut sie es? Eine schöne heile Welt kreiert etwa der 1988 geborene Westschweizer Nathan Stornetta in Légendes für Perkussion und Streichorchester von 2021.
Bei der Davoser Aufführung durch die Solistin Marianna Bednarska und die festivaleigene Camerata unter der Dirigentin Holly Hyun Choe wähnte man sich in einer hyperromantischen Wohlfühl-Oase. Dieser einlullende Deko-Klang stand im krassen Widerspruch zum Klavierquintett op. 18 von Mieczysław Weinberg. Als polnischer Jude musste Weinberg vor den Nazis fliehen, um in der stalinistischen Sowjetunion erneut als Jude verfolgt zu werden.
Sein Klavierquintett komponierte er 1944, mitten im Kriegsgrauen. Ob Form und Gehalt, Ausdruck und Struktur: Alles läuft in diesem Werk buchstäblich aus dem Ruder. Weinberg fängt die infernalische Zerrissenheit seiner Zeit ungeschönt ein, in Davos schonungslos ausgestaltet durch das Ophelio Piano Quintet. Dagegen lenkt der auskomponierte Schönheitssalon Stornettas von unserer düsteren Gegenwart ab, und so stellte sich in Davos vor allem eine Frage: Wie unpolitisch darf ein junger Komponist heute schreiben?
Dagegen bekam das diesjährige Motto mit der 1959 uraufgeführten Mono-Oper La voix humaine von Francis Poulenc eine psychologische Färbung. In Davos führten Hélène Walter und Dominic Charmot die Fassung für Sopran und Klavier auf, moderat inszeniert von Hélène Schweitzer, wodurch das Psychogramm dieser Frau noch intimer wurde. Sie spricht am Telefon mit ihrem Geliebten, der sie verlassen hat. Nur durch die Kommentierungen und Reaktionen der Frau lässt sich auf den Inhalt des Gesprächs schließen, die andere Stimme hört man nicht. Oder spielt sich alles nur in ihrem Kopf ab?
Für das Davos Festival 2023 liebäugelt Amherd mit dem Motto „Allein“. Wann beginnt die Einsamkeit, wo die Isolation? Wie viel Entfremdung steckt in Weltentrücktheit? Es bleibt überaus spannend in Davos.