Michael Heinemann

…dass die Fuge keine Fuge mehr ist

Beethovens poetischer Kontrapunkt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Text + Kritik, München
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 58

Die Fuge – eine strenge Form? Mit diesem weitverbreiteten Missverständnis räumt schon der Klappentext auf: „Die Offenheit der Form in Verbindung mit dem Ansatz, Kompositionen aus dem Material weniger Töne zu entwickeln, ließ Beethoven nach Möglichkeiten suchen, die althergebrachte Kunstform mit einer neuen ,poetischen Idee‘ zu erneuern.“ In seiner geschmackvoll aufgemachten und sorgfältig redigierten Schrift untersucht Michael Heinemann alle großen kontrapunktischen (Teil-)Sätze aus Beethovens Gesamtwerk, stets mit Blick auf das scheinbar veraltete Genre einerseits wie auf das ideengeschichtlich bedeutsame Individualkunstwerk Beethovens andererseits. Im Einzelnen finden sich so Kapitel zu Werken für Klavier (op. 35, 101, 106, 110, 120), zur Kammermusik (op. 59/3, 102/2, 137, 133, 131), zu den Messen op. 86 und 123 sowie zu den Orchesterwerken op. 124 und 125. Den Werkbetrachtungen vorangestellt sind zwei einleitende, hinführende Kapitel zur Bedeutung der Fuge in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie – in enger Anlehnung an die maßgeblichen Untersuchungen von Julia Ronge – zu Beethovens Lehrzeit, vor allem zu den Kontrapunktstudien bei Albrechtsberger. Man studiert gerade diese beiden Einleitungskapitel mit großem Gewinn; Heinemann zeigt hier beispielhaft, welche Probleme, aber auch welche Chancen sich für Komponisten „der Klassik“ in der Auseinandersetzung mit der Fuge boten. Die einzelnen Werkanalysen suchen stets die Tiefe; sie machen, als Ganzes betrachtet, letztlich einmal mehr deutlich, wie sehr Beethoven auch und gerade in der Beschäftigung mit diesem Genre nach jeweils individuellen Lösungen sucht – und wie er diese erreicht. Der Emanzipation des (vor allem instrumentalen) Einzelwerks durch Beethoven scheint der kompositorische Rückgriff auf die alte, aber eben offene Form geradezu entgegenzukommen. Die Bandbreite der in den Werken gebotenen Lösungen jedenfalls lässt Kenner und Laien heute noch staunen. Apropos: Für Letztere ist das Buch ganz offensichtlich nicht geschrieben. Der Verzicht auf Notenbeispiele ist legitim und wird im Vorwort begründet. Umso anschaulicher und auch sprachlich präziser sollte dann freilich die nachfolgende analytische Sachdarstellung sein – dies ganz besonders dann, wenn in den Einzelkapiteln bisweilen gänzlich neue und teils überraschende Überlegungen zu Form und Gestalt der Werke angestellt werden. Dies betrifft – um nur zwei Beispiele zu nennen – die Diskussion des gesamten Finalsatzes aus op. 101 (und nicht nur der Durchführung) als Fuge oder die „virtuelle Fünfstimmigkeit“ der Fuge aus op. 106. Dass auch sonst das sehr hohe sprachliche Niveau des Autors bisweilen „umschlägt“ und dafür sorgt, dass Gedankengänge eher vernebelt als erhellt werden, kann am Ende nicht verschwiegen werden. Im Sinn des Lesers ist dies nicht.
Ulrich Bartels