Gerard Mortier
Das Theater, das uns verändert
Essays über Oper, Kunst und Politik
„Kunst muss das politische Bewusstsein fördern.“ Mehr denn je zuvor beschreibt diese schon im Jahr 2000 von Gerard Mortier geäußerte Maxime eine gesellschaftliche Notwendigkeit in einer immer komplexeren Welt. Mortier, bekannt vor allem durch seine Intendanz der Salzburger Festspiele von 1991 bis 2001, ein bekennender Europäer – dafür stehen auch seine internationalen Erfolge als Theaterschaffender in Brüssel (seine ursprüngliche Herkunft), Paris, Salzburg, New York und Madrid –, wurde in seinem leider nur knapp 71 Jahre währenden Leben nicht müde, die gesellschaftsrelevante erzieherische und politische Funktion des Theaters zu betonen.
Davon zeugt die nun vier Jahre nach seinem Tod zum 75. Geburtstag erschienene Sammlung von Essays, entstanden zwischen 2000 und 2013. Teilweise leicht redigiert, gestrafft und verdichtet, handelt es sich auch um öffentlich gehaltene Reden, die in der Schriftform eines gewissen Eingreifens eines Lektorats bedurften, so Herausgeber Reinhart Meyer-Kalkus.
Der Eingangstext „Die kulturelle Identität Europas“ von 2013 liest sich denn geradezu prophetisch als Beschwörung, die Errungenschaften eines vereinten Europas zu wahren und weiterzuentwickeln, und verweist auf die kulturellen Zusammenhänge in Europa seit der Antike; Mortiers Mahnung an die Europäer, nicht zum nationalistischen Staatsdenken zurückzukehren, ist heute sogar noch aktueller als damals, betrachtet man den zunehmenden Einfluss rechtspopulistischer Politiker in immer mehr Ländern.
Mortiers Enthusiasmus und Engagement für das Musiktheater spürt der Leser in jeder Zeile. So lesen sich die Essays auch in der Anordnung wie eine komprimierte Theater- bzw. Operngeschichte mit drei Schwerpunkten: Unter dem Oberbegriff „Die Oper: Aufführung, Bühne, Publikum“ geht es zunächst um Inszenierung, Bühnenarchitektur und den Wandel des Opernpublikums von 1600 bis heute. Der Abschnitt „Große Opern, ihre Komponisten und Textdichter“ widmet sich sodann den bedeutendsten Opernkomponisten, im Mittelpunkt die Reformer, also Monteverdi, Gluck, Mozart und Richard Wagner. Es geht aber auch um zeitgenössische Werke, an deren Aufführungen Mortier maßgeblich beteiligt war – Alban Bergs Wozzeck, Wolfgang Rihms Eroberung von Mexiko und Olivier Messiaens Saint François d’Assise –, sowie um die unterschiedlichen, aber für ihn gleichermaßen starken Frauengestalten Elektra, Melisande und Katerina Ismailowa. Das übergeordnete Thema „Kunst und Politik im Medienzeitalter“ beschließt die Sammlung und fokussiert erneut die Verbindung von Theater und gesellschaftlicher bzw. politischer Realität.
Ein überaus lesenswertes Büchlein, nicht nur für Kenner, sondern auch für solche Leser, die es werden wollen, betont Mortier doch, dass es nicht um Demokratisierung und massenhafte Verbreitung der Oper geht, sondern um die intensive Heranführung des Publikums und Auseinandersetzung mit einem komplexen, manchmal schwierigen, aber überaus spannenden Medium.
Kay Westermann