Trobitius, Andreas

Das Streichsextett

Komponierte Instrumentation in der Kammermusik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2013
erschienen in: das Orchester 05/2013 , Seite 65

Anders als das Streichquartett hat das Streichsextett – mit Verdoppelung auch von Bratsche und Cello – nur einen Nischenplatz in der Kammermusikpraxis. Freie Sextett-Gruppen haben es schwer, denn das schmale Repertoire bietet keine ausreichende wirtschaftliche Basis. Umso interessanter ist dieses Gebiet für Ensembles, die aus Orchestern hervorgehen. Zwar bedarf es, ebenso wie bei Formationen mit Bläsern oder Schlagzeug, organisatorischer Voraussetzungen für Probenarbeit und Konzertplanung. Aber der Name des Orchesters bedeutet eine Qualitätsgarantie und schafft von vornherein gute Startbedingungen.
Damit enden bereits die Parallelen. Wenn ihm auch zuweilen ein orchestraler Klang nachgesagt wird – das Sextett ist kein verkleinertes Streichorchester. Die klangliche Fülle ergibt sich vielmehr aus der Eigenständigkeit und weitgehenden Gleichberechtigung der Stimmen. Darin lag und liegt für Komponisten der Anreiz für Werke ganz eigenen Charakters.
Dies meint der Autor mit dem von Carl Dahlhaus übernommenen Untertitel „Komponierte Instrumentation“. Andreas Trobitius vertritt die Auffassung, dass die eigenständige „Werkidee oder Werkdramaturgie“ der Streichsextette eines analytischen Zugangs bedarf, „der die besonderen Möglichkeiten solch einer Besetzung berücksichtigt und diese als strukturbildende Elemente wahrnimmt“. Während es bei den Streichquartetten von Haydn bis Bartók zahlreiche Annäherungen aus analytischer oder aufführungspraktischer Sicht gibt, haben solche Wahrnehmungen bei Sextetten bisher kaum stattgefunden.
Trobitius hat für seine Dissertation fünf Werke ausgesucht: das Streichsextett C-Dur op. 48 von Louis Spohr, die Streichsextette Nr. 1 B-Dur op. 18 und Nr. 2 G-Dur op. 36 von Johannes Brahms, das Sextett
in A-Dur op. 48 von Antonín Dvorák und Souvenir de Florence op. 70 von Peter Tschaikowsky. Jedes dieser Werke kann bei überzeugender Aufführung den Nimbus der Unbekanntheit, um nicht zu sagen: Unpopularität widerlegen und das verdiente Interesse finden. Dazu können die Analysen, anhand der Partitur in die Probenarbeit einbezogen, einen wichtigen und konstruktiven Beitrag leisten.
Eines sei noch hinzugefügt: Die beiden Brahms-Werke nehmen in diesem Bereich der Kammermusik, aber auch in der Biografie des Komponisten eine Sonderstellung ein. Nur als beiläufige Fußnote erwähnt Trobitius die vom Brahms-Freund Josef Gänsbacher stammende Überlieferung, wonach das ab Takt 162 im Kopfsatz von op. 36 (1864/65) auftretende Motiv A-G-A-H-E sich auf den Namen Agathe „beziehen soll“. Es ist jedoch
offenkundig, dass die souveräne Verarbeitung dieses Motivs für Brahms nach dem endgültigen Verzicht auf Ehe und Familie ein Akt der Befreiung war – ähnlich wie zuvor sein Scherzo-Beitrag zur fae-Sonate („frei aber einsam“, mit Schumann und Dietrich). Also nicht nur komponierte Instrumentation, auch komponiertes Leben.
Reinhard Seiffert