Krummacher, Friedhelm
Das Streichquartett
Handbuch der musikalischen Gattungen, hg. v. Siegfried Mauser, Bd. 6,1 "Von Haydn bis Schubert", Bd. 6,2 "Von Mendelssohn bis zur Gegenwart"
Die Gattung Streichquartett erfordert Muße, vom Komponisten wie vom Interpreten, vom Musikliebhaber wie vom Musikforscher. Denn die Geschichte der bald nach ihrer Erfindung durch Joseph Haydn zur Königsdisziplin der ernsten musikalischen Kunstausübung erhobenen Ensemblebesetzung ist ebenso umfangreich wie ihre Beiträge meist gewichtig sind. Denn sie wurden oft mit dem Anspruch verfasst, Musikgeschichte zu schreiben: Komponisten verstanden und verstehen heute noch die Arbeit an einem Streichquartett als besondere Herausforderung und in der Regel als Prüfstein und Beweis ihres Könnens.
Als Opus 1 ein Werk für vier Streicher vorzulegen, war seit Anbeginn der Gattung ein anerkannt bedeutsames Unterfangen, dem in der Musikwelt bis heute große Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Dass daher immer noch jedes Jahr zwischen 150 bis 200 neue Quartettkompositionen im Druck erscheinen in einer eigentlich eher als brotlos bekannten Kunst , das ist bei den hohen Ansprüchen des in der Regel kleinen, aber umso gebildeteren Publikums außerordentlich bemerkenswert. In kaum einer anderen, über gut 250 Jahre stetig sich entwickelnden Disziplin werden musikalisches Können und klassische Bildung, werden die Originalität des Intellekts und das abstrakt-musikalische Denken strenger beurteilt als beim Streichquartett einem beinah heiligen Ort musikalischer Erkenntnis, den der Ruch unerbittlicher musikalischer Wahrheitsfindung umgibt.
Ein umfassendes Forschungsvorhaben in diesem Bereich nimmt naturgemäß viel Zeit in Anspruch die Aufgabe ist gewaltig, auch wenn die Partituren eher klein scheinen. Ludwig Finschers erstem Band zur Geschichte der klassischsten aller musikalischen Gattungen (1974) folgte über fast drei Jahrzehnte kein zweiter. Auch das von Carl Dahlhaus ins Auge gefasste Unternehmen zum selben Gegenstand, das Friedrich Krummacher 1988 übernahm, brauchte viele Jahre bis zur ersten Publikation des ersten Bands (2001). Nun erschien der abschließende Folgeband im Handbuch der musikalischen Gattungen, sodass jetzt erstmals ein komplettes Kompendium zur Geschichte des Streichquartetts zur Verfügung steht, wobei Krummacher, wie er im Vorwort bekennt, auf die umfangreiche Quellensammlung Finschers zurückgreifen konnte: Man kann diese beiden Bände also mit einigem Recht als endlich Wort gewordene aktuelle Fortführung von Finschers vorliegenden Studien betrachten.
Krummachers zweiter Band befasst sich mit der Gattungsgeschichte von Mendelssohn bis zur Gegenwart, wobei der abschließende Beitrag von Joachim Brügge die aktuellen Tendenzen und Entwicklungen seit 1975 zusammenfasst. Der Gang der Gattungsgeschichte von der Hausmusik zum öffentlichen Konzert und schließlich zum Medium avancierter Neutöner, in der die Tradition auch dort noch didaktisch anwesend [ist]
wo an ihrer Auflösung komponiert wird (Finscher), wird von Krummacher in ihrer umfassenden Fülle aufgearbeitet. Dabei beleuchtet er die etablierten Meister der Gattung genauso wie einige nur zeitweise Bedeutung findenden, heute aber oft zu Unrecht zu Repertoireaußenseitern gewordenen Komponisten: von Hirschberg und Raff über Fuchs und Gernsheim bis zu Bloch und Nordheim. Besonderes Augenmerk lenkt der Autor auf Komponisten des skandinavischen Raums.
Dem gern diagnostizierten Niedergang der Gattung in den 60er und 70er Jahren (Ein Streichquartett! So was Bürgerliches! hieß es 1967/68 als erste Reaktion auf Luigi Nonos Plan, sein Werk für das LaSalle Quartett das schließlich bedeutendste seiner Zeit zu schreiben) folgte eine Renaissance in den 80er Jahren, als Wolfgang Rihm wieder sagen konnte, Streichquartett sei für ihn ein magisches Wort.
Dem Boom im Bereich der aktuellen Musikproduktion entsprach auch ein vermehrtes Interesse an der Wiederentdeckung weitgehend vergessener Komponisten auf dem CD-Markt: Namen wie Onslow oder Goldmann wurden durch Einspielungen ihrer Quartettkompositionen wieder in den Blick der Öffentlichkeit gehoben.
Insofern will auch Krummachers umfassende Aufarbeitung verständlicherweise keine Vollständigkeit beanspruchen. Die Menge des bewältigten Stoffs ist ohnehin beachtlich, und so macht auch der Kundige in diesen Bänden immer wieder Entdeckungen. Einzelmonografien und -analysen sowie zusammenfassende Essays zu nationalen oder stilistischen Gruppierungen wechseln sich ab.
Mit diesem kompetent verfassten, weit greifenden, historisch-chronologisch geordneten, dabei aber Parallelentwicklungen transparent machenden Überblick ist Friedhelm Krummacher ein profundes Standardwerk gelungen, das die durch ihre Entstehungsgeschichte ungewöhnlich klar umrissene, anspruchsvolle Gattung in ihrer ganzen Entwicklung bis in die Beinah-Gegenwart hinein souverän nachzeichnet. Dass sich in der Beschreibung der Quartettproduktion des vergangenen Jahrzehnts unvermeidlich Lücken auftun, liegt in der Natur einer solchen Arbeit, die nicht jede Verzweigung verfolgen kann, wenn sie den Fortschritt der Gattung durch die Zeiten aufzeigen will.
Da durchgehende Traditionslinien in Deutschland und Österreich durch die Nazi-Diktatur entweder unterbrochen wenn nicht ausgelöscht bzw. in die herrschende Ideologie zeitweise aufgesogen wurden, war ein Neuanfang nach 1945 unumgänglich. So stellte sich etwa die Darmstädter Schule der Auseinandersetzung mit dem Genre (Boulez), und Komponisten wie Ligeti, Penderecki oder Kagel versuchten neue Ansätze in psychoakustischer oder eher theatralisch-ironischen Richtungen. Doch selbst die in der folgenden Generation erfolgte Total-Determination (Ferneyhough), die Total-Zertrümmerung (Lachenmann) und die endlos zerdehnte Total-Nivellierung (Feldman) aller musikalischen Bestandteile und Möglichkeiten gaben der Gattung immer wieder neue Impulse. Dass Wolfgang Rihm sie wie seine Vorgänger Bartók, Schönberg, Schostakowitsch zum eigentlichen Zentrum seines Komponierens erhob, scheint keineswegs verwunderlich. Und was Joseph Haydn und all seine Nachfolger so faszinierte, übt auch heute wieder seine Rei-ze aus: Die größtmögliche Ausdrucksvielfalt bei unübertrefflich ausgewogenem Klangbild und erstaunlich geringen Mitteln vier kompetente Streicher sind nötig, mehr nicht.
Kurz gehaltene Notenbeispiele, Register und Literaturhinweise runden die relativ handliche Doppelausgabe dieses umfassend informierenden Handbuchs ab und ermöglichen so auch die Nutzung als gewinnbringendes Nachschlagewerk.
Matthias Roth