Lotzow, Alexander

Das Sinfonische Chorstück im 19. Jahrhundert

Studien zu einsätzigen weltlichen Chorwerken mit Orchester von Beethoven bis Brahms. Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 55

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 11/2017 , Seite 57

Es gibt Segmente im Bereich der Chormusik, die wegen ihrer Besetzung sowie aufgrund von Problemen gattungsspezifischer Einordnung eher ein Seiten-Dasein führen. Dazu gehören die – wie Alexander Lotzow sie neologisch nennt – „Sinfonischen Chorstücke“ mit ihrer eindeutigen zeitlichen Verortung im 19. Jahrhundert. Lotzow definiert diese Chorsinfonik durch „Einsätzigkeit und geringe Aufführungsdauer, basiert auf Texten vergleichbarer Art, auf präexistenter, weltlicher Lyrik hohen Tons“. Mithin Chorstücke also, denen ein gewisser exotischer Charakter nicht fremd ist. Rein aufführungspraktisch (und finanziell) sind solche Werke heute realistischerweise nur dann in Konzertprogramme einzufügen, wenn eine große Orchesterbesetzung vorliegt und ein weiteres, größeres chorsinfonisches Werk musiziert wird.
Umso dankbarer muss man sein, dass es Lotzow gelingt, mit seiner lesenswerten Dissertation eine außerordentlich bestechende Gesamtschau auf das Genre dieser „Sinfonischen Chorstücke“ vorzulegen. Angefangen von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bildungsbürgerlichen Musizierens im 19. Jahrhundert über das Chorvereinswesen, Veranstaltung gigantischer Musikfeste (allein in Düsseldorf waren es 1896 etwa 750 Mitwirkende) bis hin zu krisenbedingten Auflösungserscheinungen bürgerlichen Musizierens zu Beginn des 20. Jahrhunderts schafft der Autor ein Terrain, das Lust macht, die Einzelanalysen mit Gewinn zu verfolgen.
Beethovens Meeresstille und glückliche Fahrt, Schumanns Nachtlied, Brahms’ Schicksalslied und Gesang der Parzen sowie Werke von Gade und Hiller untersucht Lotzow mit einer seriösen, gleichwohl immer verständlichen und nie abschweifenden Akribie. Jedes der sechs Werke unterwirft er dabei Aspekten wie Entstehungsgeschichte, Form, Harmonik, Themenarchitektur oder Wort-Ton-Beziehung, fügt Notenbeispiele ein, gibt Querverweise zu Nachbarwerken, sodass sich letztlich jede Einzeluntersuchung zu einer höchst spannenden Werkeinführung fügt. Meines Wissens sind diese romantischen „Sinfonischen Chorstücke“ in den bekannten Chormusikführern nicht annähernd so ausführlich dargestellt wie in Lotzows Buch.
Bleibt die Frage der Veröffentlichungsrelevanz. Es gibt Bücher, die müssen gedruckt und herausgebracht werden wie die hier vorliegende Doktorarbeit. Und es gibt Bücher, die müssen geschrieben werden, weil man sie braucht. Lotzows Buch – zur ersten Gruppe gehörend – wird es mit seinen 484 Seiten, den ungemein detailhaft-gründ­lichen Untersuchungen sowie dem Preis von 54 Euro schwer haben, Verbreitung zu finden. Daran wird auch die tadellose äußere Aufmachung, die der Bärenreiter-Verlag mit Unterstützung eines Förderfonds der VG Wort zu Stande gebracht hat, nichts ändern. Schade!
Thomas Krämer

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