Kathrin Bellmann

Das Probespiel im Orchester als Personaleignungsdiagnostik

Problemstellungen und Lösungsansätze

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Lit, Berlin 2020
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 73

In ihrer Arbeit hat Kathrin Bellmann das Thema Probespiel im Orchester erstmals einer musik- und personalpsychologischen Analyse unterzogen. Bellmann war selbst als Flötistin in verschiedenen Orchestern tätig und arbeitet heute nach einem Psychologiestudium als Personalpsychologin.
Im Zentrum ihrer Veröffentlichung steht eine empirische Studie in Kooperation mit der Jungen Deutschen Philharmonie, in der Bellmann ein reales Probespiel experimentell mitgeplant und durchgeführt hat. Fast vierzig Bewerber auf eine Geigenstelle erklärten sich bereit, an der Studie teilzunehmen und ihr Probespiel aufzeichnen zu lassen. Die Aufnahmen wurden anonym von professionellen Musikern bewertet und konnten so anhand von komplexen statistischen Verfahren analysiert werden.
Obwohl die beteiligten Akteure das Probespiel durchweg als sehr objektives Verfahren einstuften, kommt Bellmann zu dem Ergebnis, dass das bewährte Probespielverfahren kaum wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Beispielsweise entlarvt sie die „Beurteilerreliabilität“ als „schockierend niedrig“. Das heißt: Jemand bewertet ein und dieselbe Performance beim ersten Hören anders als beim zweiten Hören.
Dieser Befund lasse fundamentale Zweifel an der Fairness der Bewertung musikalischer Performances aufkommen, attestiert die Autorin. Sie ergänzt, dass das Probespiel als Verfahren demokratischer Meinungsbildung ein enormes Potenzial bezüglich Objektivität berge. Dieses werde aktuell jedoch dort nicht genutzt, wo statt einer geheimen Abstimmung gruppendynamisch heikle Diskussionen und offene Abstimmungen die Meinungsbildung bestimmen.
Als Verbesserung empfiehlt sie, ein individuelles Anforderungsprofil für auszuschreibende Positionen zu erstellen. In einer Vorstudie hat sie dafür sieben Kernkompetenzen herausgearbeitet. Das orchestrale Zusammenspiel liegt dabei mit großem Abstand vorne, wird absurderweise bisher aber überhaupt nicht abgefragt. Hierfür schlägt Bellmann die Einführung einer Kammermusikrunde vor. Außerdem plädiert sie für die Integration von Vomblattspiel-Stücken sowie von speziell standardisierten Interviews. Mit Letzterem sollen die in den Anforderungsprofilen geforderten Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen bewertet werden. Das von Bellmann auf diese Weise entworfene Verfahren „wäre langfristig kaum zeit- und kostenintensiver als das momentan übliche Prozedere und verringerte die Gefahr von Fehlentscheidungen erheblich“.
Aufgrund der wissenschaftlichen Komplexität dieser Veröffentlichung setzt die Autorin beim Leser ein Grundmaß an statistischem und psychologischem Vorwissen voraus, um die empirischen Zusammenhänge angemessen einordnen zu können. Trotzdem ist es den Aufwand wert, sich in diese Thematiken einzulesen. Denn für die Diskussionen über potenzielle Optimierungen des Probespielverfahrens bietet Bellmann absolut fundierte und aussagekräftige Daten an.
Stefan Landes