Irena Müller-Brozovic/Barbara Balba Weber (Hg.)

Das Konzertpublikum der Zukunft

Forschungsperspektiven, Praxisreflexionen und Verortungen im Spannungsfeld einer sich verändernden Gesellschaft

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: transcript
erschienen in: das Orchester 9/2022 , Seite 62

Die Corona-Pandemie hat den Bedarf zur Sicherung eines treuen Stammpublikums und zur Gewinnung neuer Zielgruppen für Orches­ter noch deutlicher gemacht als je zuvor. Das von den beiden Herausgeberinnen unter dem Eindruck von Lockdown und massiven Beschränkungen von Veranstaltungen konzipierte Buch bringt diverse Fachleute aus der Schweiz, Österreich und Deutschland zusammen, die sich aus ihren jeweiligen Blickwinkeln mit den strukturellen Problemen des herkömmlichen Konzertbetriebs befassen, gleichzeitig aber versuchen, neue Aspekte und Impulse aufzuzeigen. Schließlich sei allen klar geworden, was es bedeute, von einem auf den anderen Tag gänzlich ohne Publikum dazustehen.
In der „Ausgangposition“, einem von insgesamt fünf thematisch verdichteten Abschnitten, beschreibt Kulturforscherin Susanne Keuchel anhand aktueller Bevölkerungsbefragungen den möglichen Einfluss von Themen wie Nachhaltigkeit und Digitalität auf das zukünftige Konzertpublikum. Im Abschnitt „Interaktion“ ermittelt u.a. die Herausgeberin Irena Müller-Brozovic die Potenziale der Veränderung des Verhältnisses eines Orchesters zu seinem Publikum: weg von der passiven Rolle Zuhörender hin zu Resonanz, Reflektion und Community Building. In einem Interview werden die Montforter Zwischentöne als Beispiel zur Entwicklung neuer Konzertformate herangezogen, die Aspekte einer „Dramaturgie der Nähe“ und die Potenziale herausfordernder, neuer Konzertideen erörtert. Das inzwischen als etabliert geltende Stegreiforchester dient in dem Beitrag „#freeAudience“ als Beispiel für einen performativen Aufbruch, der bei den Mitgliedern des Ensembles und ihren bühnenmäßigen Aktionen in der Interpretation klassischer Werke ansetzt.
Im Kapitel „Transformation“ findet sich ein Abdruck eines 2018 veröffentlichten Beitrags von Martin Tröndle zur Konzerttheorie und zur historischen Entwicklung heute üblicher Sinfoniekonzerte. Constanze Wimmer beschreibt, an welchen Schnittstellen Musikvermittlung für Erwachsene anknüpfen muss, um diese als Publikum zu binden. Barbara Balba Weber hat in einem „Konzertexperiment“ eine Gruppe junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren in ein konventionelles, älteres Publikum eingeschleust und die daraus entstehenden Wechselwirkungen untersucht.
Das Kapitel „Lokalisation“ befasst sich mit (variablen) Konzertorten und unterschiedlichen Konzertsituationen, die ihrerseits maßgeblichen Einfluss auf das individuelle Konzerterlebnis haben. Interessante Praxisbeispiele liefern der „Musikwagen“ des Luzerner Sinfonieorchesters, der Schulen und Menschen in ländlichen Räumen erreicht (Motto: „Zu Gast beim Pub­likum“) sowie das Foyer Public des Theaters Basel, welches das Theater­foyer zum öffentlichen Begegnungs­raum im besten Wortsinn macht.
Insgesamt liefert das lesenswerte Buch viele Ideen und Anregungen, sich noch besser und enger mit dem Publikum zu verbinden.
Gerald Mertens