Ute Jung-Kaiser

Das ideale Musikerporträt

Von Luther bis Schönberg

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 60

Mit diesem Pfund kann die Autorin Ute Jung-Kaiser wahrhaftig wuchern, denn es handelt sich um ein mehr als ein Kilo schweres Buch in wuchtig-seriösem Hardcover-Gewand. Dass eine Hand mit Notenblatt von Johann Sebastian Bach den Einband ziert, mag die Gewichtigkeit symbolisch noch unterstreichen. Aber auch der Inhalt ist bedeutungsvoll. Das ideale Musikerporträt – „Von Luther bis Schönberg“, so der Untertitel – enthält die Porträts von 24 ganz Großen der Musikgeschichte. Das Besondere: Die Autorin, Musikwissenschaftlerin und Hochschulprofessorin, hangelt sich an den bildlichen zumeist zeitgenössischen Porträts entlang, die die Musiker inspiriert und angeregt oder die sie oder andere in Auftrag gegeben haben. Geht man von diesen aus, kommt noch einmal eine völlig neue Dimension des Porträtierens hinzu, nämlich die Interpretation. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Marmorbüste Gustav Mahlers von der Hand Auguste Rodins, einer Apotheose, die als kongenial gewertet wurde und wird. „Ich sehe Mozart im erhabenen Kopf Mahlers“, soll Rodin über den Modell sitzenden Komponisten gesagt haben. „Es war die ergeistigung künstlerischen Wollens, die Transformation des Blickes“, schreibt Jung-Kaiser. Die bildende Kunst vermag die Seele zum Ausdruck zu bringen, so die Verfasserin zahlreicher musikwissenschaftlicher Arbeiten und Biografien. Dass es sich auch hier um eine eher akademische, weniger um eine Populärwissenschaftliche Publikation handelt, ist nicht zuletzt an den Präliminarien des Buchs wie „Überlegungen zum methodischen Procedere“ und „reale Musikerbildnisse – Herangehensweise“ zu erkennen. Ausgangspunkt für die Autorin ist der antike Mythos von Orpheus. Sein Bildnis ist für Jung-Kaiser „Prototyp eines idealen Musikerporträts“. Gleichwohl sind ihre Musikerporträts von allgemein gültigem und durchaus handfestem Wert. Das liegt in erster Linie an ihrer feinen, klaren Sprache. Es macht Spaß, Jung-Kaiser zu lesen und in die mit vielen Textzitaten versehenen Biografien großer Komponisten wie Chopin, Schubert oder Brahms einzutauchen. Nehmen wir Beethoven, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird: In Jung-Kaisers Porträt wird er fernab der „gleichsam in Zement geschriebenen Stereotypen“ zu einem Menschen, der viele Facetten, auch dialogfreudige, humane und humorvolle zeigt. Zu den Bonbons der Publikation zählen die Veröffentlichungen unbekannter Zeichnungen und Bilder wie die „nach dem Leben“ gezeichnete Skizze eines anonymen Künstlers, das den Maestro mit – so Jung-Kaiser – sympathischen, alles andere als heroisch zu  ernnenden Gesichtszügen zeigt. Es sind viele Entdeckungen zu machen: von Laien und Experten gleichermaßen. Am Ende lautet Jung-Kaisers  Resümee: Dem idealen Musikerbildnis gelingt es, den Künstler „angemessen zu deuten, eine Balance herzustellen zwischen Außen- und Innenbildnis und die Geistseele des Dargestellten durchscheinen zu lassen.“
Christina Hein