Jeremy Eichler

Das Echo der Zeit

Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Klett-Cotta, Stuttgart
erschienen in: das Orchester 4/2025 , Seite 67

Sein Verdikt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, hat Theodor W. Adorno später revidiert. „Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung“, stellte er fest. Der amerikanische Kulturhistoriker und Musikkritiker Jeremy Eichler greift diesen Gedanken auf, um in seinem großartigen Buch Das Echo der Zeit die Rolle der Musik als Medium der Erinnerungskultur zu beleuchten. In seinem geschichtlichen Abriss schlägt er einen weiten Bogen, von den Emanzipationsbestrebungen deutscher Juden und der Zerstörung der Ideale der Aufklärung durch die Nazi-Barbarei bis hin zu Komponisten, die ihre Erschütterung über den Krieg in Töne fassten. Im Fokus stehen vier bekannte Werke – die Metamorphosen von Richard Strauss, Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau, Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie Babi Jar und das War Requiem von Benjamin Britten. Diese musikalischen Mahnmale können Leerstellen füllen, die nach dem Tod direkter Zeitzeugen entstehen. Durch die emotionale Unmittelbarkeit des Klangs schlage die Musik authentischere Brücken zur Gegenwart als steinerne Denkmäler, so Eichler. In seinem Buch will er die Bedeutungsschichten durchdringen, die Musikwerke im Laufe der Zeit ansammeln.
Strauss wie auch Schönberg strebten danach, mit ihrer Musik die deutsche Kultur in die Moderne zu führen. Doch während Strauss sich durch seine Nähe zur NS-Diktatur moralisch kompromittierte, kappte Schönberg durch die Flucht ins Exil schließlich alle Verbindungen zur Heimat. Die in den letzten Kriegstagen komponierten Metamorphosen sind als Klagelied auf eine in Schutt und Asche liegende Kultur zu deuten. Dagegen gilt Schönbergs in den USA entstandenes Melodram, das sich mit der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943 befasst, als erstes bedeutendes Gedenkwerk für die ermordeten Juden. Anderthalb Jahre zuvor hatten die deutschen Besatzer in der Schlucht Babi Jar bei Kiew an zwei Tagen über 33000 ukrainische Juden erschossen. Dieser „Holocaust durch Kugeln“, dem noch Zehntausende weitere Menschen zum Opfer fielen, brachte Schostakowitsch dazu, auf Gedichte des Lyrikers Jewgeni Jewtuschenko eine Sinfonie zu schreiben, die auch den Antisemitismus in der Sowjetunion anprangerte. Schostakowitsch stand im persönlichen Austausch mit Benjamin Britten, dessen War Requiem in der nach deutschen Bombenangriffen wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry uraufgeführt wurde. Der bekennende Pazifist Britten verband eine lateinische Totenmesse mit Versen des im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichters Wilfred Owen.
Corina Kolbe