© Uwe Arens

Frauke Adrians

Das definitive Dutzend

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker feiern ihre ersten 50 Jahre

Rubrik: Thema
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 20

Mit einem Quartett zum 35. Geburtstag eines Cellisten fing alles an. Der Rest ist Musikgeschichte. In diesem Jahr können die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker auf ihr erstes halbes Jahrhundert zurückblicken: ein einzigartiges Ensemble in den besten Jahren.

Als Rudolf Weinsheimer 1972 vorschlug, ein Stück für zwölf Celli einzustudieren und aufzunehmen, rannte er bei seinen Kollegen von der Cello-Gruppe der Berliner Philharmoniker keine offenen Türen ein. Alexander Wedow erinnert sich deutlich an die Skepsis unter seinen Mitcellisten: „Keiner hatte Lust darauf. Es war schon eine kleine Gewaltleistung von Rudolf, die erste Probe zusammenzubekommen. Es ging um ein Stück von ungefähr zwölf Minuten Dauer, aber auch dafür muss man ganz schön lange proben. Und es war nicht so, dass wir nicht schon genug zu tun gehabt hätten!“ Die zwölf Herren waren zudem „so was von unterschiedlich – jeder war anders, jeder kam aus einer anderen Schule, hatte ein anderes Level“. Im Alter allerdings lagen die meisten nicht allzu weit auseinander. „Wir Jüngsten waren in den Dreißigern“, andere, wie Rudolf Weins­heimer, hatten den 40. Geburtstag noch nicht lange hinter sich.
Genau genommen war es Weinsheimers 35. Geburtstag, mit dem die Vorgeschichte der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker begann. Damals, 1966, lud der junge Jubilar drei Kollegen zur Feier ein und bat jeden, ein Stück für Cello-Quartett mitzubringen. Diese Geschichte ist, wie so viele andere aus dem reichen 12-Cellisten-Anekdotenfundus, in dem auf Rudolf Weinsheimers Erinnerungen beruhenden Buch Der siebte Cellist nachzulesen. Auch Alexander Wedow – die Nummer neun unter den Zwölfen – erinnert sich daran. „Es kamen vier kleine Stücke zusammen, wir haben uns an der Solo-Position abgewechselt. Und die Gäste bei der Geburtstagsfeier waren begeistert. Da kam dann Rudolfs Talent zum Vorschein: Er hat gemerkt, wir können uns mit so einem Programm hören und sehen lassen! Und da hat er es gleich für unsere bevorstehende Japan-Tournee angeboten.“ Weinsheimers Schwiegervater konnte als Japanologe Kontakte zur Waseda-Universität in Tokio herstellen und – „damit sich der Aufwand auch lohnen würde“, wie Weinsheimers Biografin Monika Borth schreibt – obendrein zum japanischen Rundfunk NHK.

Zu viert in Tokio und Salzburg

Über den Enthusiasmus, mit dem auch das japanische Publikum den Auftritt des Cello-Quartetts feierte, waren die vier Akteure selbst ein wenig verwundert. „Für uns Cellisten war das ja nichts Besonderes“, sagt Alexander Wedow. Aber für die Konzertbesucher. Sie kannten den Klang der Celli innerhalb des Orchesters und hatten das Instrument sicher auch schon in Kammerkonzerten und solo erlebt. Aber was ein ausschließlich aus Celli bestehendes Ensemble kann, welchen Tonumfang, welche Klangfülle und -varianz es bietet – von sattem Unisono-Bass zu viert bis hin zu haarfeinen Flageoletts eines Solocellos, von lyrischem Gesang bis hin zu witzig-spritzigen Spiccati und Pizzicati –, das war den meisten offenbar mehr oder weniger neu.
Das Quartett gastierte beim ORF in Salzburg und spielte das Cellisten-Programm dort 1967 ein. Dann aber sollten fünf Jahre vergehen, bis der ORF-Aufnahmeleiter auf dieses beeindruckende Gastspiel zurückkam und Weinsheimer und dessen Kollegen einen noch viel größeren Coup antrug: den Hymnus op. 59 für zwölf Violoncelli von Julius Klengel. „Wie Rudolf so war“, erinnert sich Alexander Wedow, trommelte er nicht nur die ganze Cellogruppe der Berliner Philharmoniker zusammen, „sondern auch gleich die gesamte Presse“ und einige Verwandte. Etwa 25 Zuhörer erlebten 1972 den Startschuss der 12 Cellisten mit. „Das Publikum hat das Stück zweimal gehört“, so Wedow, „alle waren sich einig: Das klingt ja unglaublich!“ Sofort habe für Rudolf Weinsheimer festgestanden: „Nächstes Jahr machen wir ein ganzes Konzert daraus.“ Alexander Wedows Einwand, man habe doch gar kein Repertoire, sondern bloß ein einzelnes Stück, ließ er nicht gelten: „Das kommt.“
Es kam tatsächlich. Wie, auch dazu gibt Rudolf Weinsheimer in seinen Lebenserinnerungen Auskunft. Legendenstatus errang insbesondere die Geschichte, wie er einmal zufällig Boris Blachers 15-jährige Tochter als Anhalterin zur Philharmonie mitnahm, wofür sich ihr Vater mit einem Stück für 12 Cellisten revanchierte, der Rumba philharmonica. Über die nächsten Jahre folgten Werke vieler weiterer Komponisten. Alexander Wedow hat eine Liste angefertigt, die von Jean Françaix bis Arvo Pärt reicht, von Iannis Xenakis über Tōru Takemitsu bis Wolfgang Rihm. Fast zwei Dutzend Namen bedeutender Komponisten umfasst die Liste allein bis 1996, dem Jahr von Rudolf Weinsheimers Pensionierung; danach kamen noch viele weitere hinzu. Und zu keiner Zeit waren die 12 Cellisten allein auf Originalkompositionen angewiesen: Stets fanden sich Arrangeure, die Werke für andere Besetzungen den Bedürfnissen und Tonlagen des querstreichenden Dutzends anpassten.
Dass das Arrangieren allerdings auch Grenzen hat, ließ Martin Menking, Weinsheimers Nachfolger als Erster unter den zwölf Gleichen, im Januar 2022 im Gespräch mit dem Tagesspiegel ­durch­blicken. Man habe feststellen müssen, „dass kein Mensch ein ­
12-Cellisten-Arrangement von Bachs 6. Brandenburgischem Konzert braucht. Weil das Werk für sich spricht. Ebenso wie die Klavierstücke von Schumann“, wird Menking von Tagesspiegel-Redakteur Frederik Hanssen zitiert.

Zwölf Gleiche

Eine Auswahl der geschichtsträchtigsten und besten Stücke aus 50 Jahren Celloensemble-Geschichte spielte das amtierende Dutzend beim Festkonzert am 9. Januar in der Philharmonie; ein Programm, mit dem die 12 Cellisten ihr Jubiläumsjahr eröffneten. Vier bis fünf Stunden Musik habe man auf dem Zettel gehabt, erzählte Zwölftett-Mitglied und Konzertmoderator Ludwig Quandt, „alles Werke, die wir gern spielen wollten. Jetzt weiß ich, was ein Streichkonzert ist.“ Alexander Wedow, der das Konzert als Zuhörer in der Philharmonie miterleben konnte, hat seine Freude an Quandts humorvollen, pointierten, nicht selten selbstironischen Moderationen. „Das ist eine echte Bereicherung. Und es stellt noch mehr Nähe zum Publikum her.“
Nähe war schon immer ein Kennzeichen der 12 Cellisten – nicht nur, weil eine Kammermusikgruppe aus einem Dutzend Musikern nun mal nahbarer wirkt als ein großes Sinfonieorchester. Besondere Sympathien schlugen den 12 Cellisten schon deshalb entgegen, weil dieses so vollkommen ungewöhnliche Ensemble viele ungeschriebene Gesetze des Klassik-Konzertwesens übertrat und damit für viele die Schwelle zur „E-Musik“ senkte. Hier, so schien es jedenfalls dem Publikum, spielten Musiker ohne Rangordnung; die Cellisten, die da im Halbkreis saßen, wirkten absolut gleichwertig, zumal jeder im Laufe des Konzerts deutlich als individuelle Cellostimme zu vernehmen war und kürzere oder längere Soli spielte. „Für die Solocellisten“, erinnert sich Alexander Wedow schmunzelnd, „war es nicht immer leicht, dass bei den 12 Cellisten die Tuttisten gleichrangig waren – und dass alle im Ensemble das Gleiche verdienten.“
Und dieses Ensemble – auch das gefiel den Zuhörern und Zuschauern – seilte sich gern mal von den Höhen des klassischen Repertoires ab und spielte Populäres, das es sonst in klassischen Konzerten überhaupt nicht oder allenfalls mal als Zugabe zu hören gab: etwa Nino Rotas bekannte Melodie aus dem Fellini-Film La Strada oder Paul McCartneys Yesterday. Den Beatles-Hit widmeten die aktuellen Zwölf beim Konzert am 9. Januar ausdrücklich ihrem 90-jäh­rigen Gründer Rudolf Weinsheimer (Moderator Ludwig Quandt: „Lieber Rudi, das spielen wir jetzt ganz alleine für dich“), der im Unterschied zu Alexander Wedow nicht selbst in die Philharmonie kommen konnte. Zu sehen und zu hören bekam er das Jubiläumskonzert der 12 Cellisten dennoch – der Digital Concert Hall sei Dank.

Vorbild für andere

Das umfassende Digital-Angebot zählt zu den Innovationen, die die Berliner Philharmoniker den meisten anderen Orchestern voraushaben. Aber auch die 12 Cellisten selbst waren eine Innovation mit Vorbildwirkung für andere Ensembles, andere Orchester. Ganz sicher hat die ungewöhnliche Formation vielen Musikern Mut gemacht, jenseits vom Streichquartett und anderen „klassischen“ Kleingruppen Ensemblegründungen zu wagen. Ohne sie hätte sich wohl beispielsweise das Cello-Metal-Quartett Apocalyptica nie formiert. Auch andere Cellisten-Zwölftette gab und gibt es – etwa die 2007 von dem Geraer Cellisten Lukas Dreyer ins Leben gerufenen 12 Thüringer Cellisten, die es immerhin zu zahlreichen Konzerten und einer CD brachten. Doch dieses Ensemble, das auch ein Zeichen gegen Kürzungen und Streichungen im Kulturhaushalt des Landes Thüringen setzen wollte, hatte es ungleich schwerer als sein Berliner Vorbild. Schon für zwölf Musiker innerhalb eines einzigen Orchesters ist es eine logistische Meisterleistung, Proben- und Konzerttermine zu finden, die allen passen. Die 12 Thüringer Cellisten aber entstammten bis zu zehn verschiedenen Orchestern und wohnten weit verstreut in einem – wenn auch kleinen – Flächenland. Da konnte die Termin-Koordinierung auf Dauer nicht funktionieren. Trotzdem: Wer die Thüringer 12 damals zwischen ­Eise­nach und Altenburg im Konzert erlebt hat, erinnert sich sicher gern.
Innovativ war – und ist –, wie die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker ihrem Publikum zeitgenössische Werke vermitteln – oder: unterjubeln –, ohne dass jemand zuckt. Im Programmheft eines Sinfoniekonzerts würde eine Quote von 80 Prozent Neuer Musik bei großen Teilen des Publikums für heftige Bedenken, wenn nicht für Abwehr- oder Fluchtreaktionen sorgen. Von den 12 Cellisten indes erwarten die Zuhörer nichts anderes. „Wir hatten einen unglaublichen Erfolg damit“, sagt Alexander Wedow. „Und jedem Komponisten, dem wir begegneten, hat Rudolf gesagt: Schreib uns ein Stück!“

Der Zwölfte von der Komischen Oper

Rudolf Weinsheimer war unbestritten der Gründer und ­Impuls­geber der Zwölf. Doch dass die Cellisten der Philharmoniker überhaupt ein rundes Dutzend statt einer Elf waren, haben sie indirekt Alexander Wedow zu verdanken. Der gebürtige Berliner war im Jahr des Mauerbaus ein junger Mann von 28 Jahren. Er lebte im Westteil der Stadt, arbeitete jedoch seit fünf Jahren – als Tuttist, dann als Vorspieler, schließlich als stellvertretender Solocellist – an der Komischen Oper in Ostberlin. Das war bis 1961 unproblematisch. Selbst nach dem 13. August sagte Walter Felsenstein, Gründer und langjähriger Intendant der Komischen Oper, seinen West-Mitarbeitern zu, sie nicht zu entlassen und ihnen sogar einen Teil ihrer Gehälter in Westgeld zu zahlen. „Aber an der Komischen Oper zu bleiben, hätte bedeutet, jeden Tag die Grenze überqueren zu müssen“, so Wedow – ein zeit- und nervenaufwendiger Spießrutenlauf. „Ich habe daher um die Entlassung aus meinem Vertrag gebeten.“
Nun war er einer der nicht gerade wenigen arbeitslosen Musiker in Westberlin. Doch gute Kontakte zu ehemaligen Kommilitonen und eine Portion Glück kamen ihm zu Hilfe. Seine Freunde aus Studien­tagen Christoph Kapler und Wolfgang Boettcher spielten mittlerweile bei den Berliner Philharmonikern und gaben dem dortigen Cello-Einteiler den Hinweis, dass Wedow als Aushilfe zur Verfügung stehe. Und dann richteten die Philharmoniker eine zwölfte Cello-Stelle ein. In der Zeit nach dem Mauerbau, erinnert sich Alexander Wedow, hätten viele West-Orchester ihre Stellen aufgestockt, um Musiker aufnehmen zu können, die aus der DDR gekommen waren oder so wie er ihre Stellen im Ostteil Berlins verloren hatten. So wurde er 1962 der zwölfte Cellist der Philharmoniker. Bis sich zehn Jahre später die 12 Cellisten als Ensemble gründeten, rückte er auf Rang neun vor.
Anders als Rudolf Weinsheimer hat er keine Memoiren veröffentlicht. Aber im Gespräch nennt auch er ohne Zögern Ereignisse aus der Geschichte der 12 Cellisten, die er nie vergessen wird. Dazu gehört die Israelreise des Ensembles in den Siebzigern, aber auch ein Konzert im japanischen Kaiserpalast; Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte dem Kaiserhaus den dortigen Auftritt der 12 Cellisten geschenkt. Kaiser Akihito, selbst ein hingebungsvoller Cellospieler, und Kaiserin Michiko hörten nicht nur zu: „Die Kaiserin war fabelhaft am Klavier, wir haben mit ihr zusammen eine Zugabe gespielt.“ Zuvor musste Michiko allerdings im Flüsterton die Erlaubnis ihres kaiserlichen Ehemannes einholen.
Noch tiefer hat sich Alexander Wedow eine Begegnung mit Jacqueline du Pré beim ersten Londoner Konzert der 12 Cellisten 1977 eingeprägt. Die weltberühmte Cellistin, Ehefrau von Daniel Barenboim, war damals bereits schwer an Multipler Sklerose erkrankt und auf den Rollstuhl angewiesen. Doch sie wollte das Cellisten-Ensemble aus Berlin unbedingt kennenlernen. Beim Konzert saß sie in der ersten Reihe – „und jubelte“, erinnert sich Wedow voll Wärme.

Durchstarten mit 25

Vor allem diese einzigartigen menschlichen Begegnungen sind es, die das oft auch von Stress und Hektik geprägte Musikerleben bereichert haben. Alexander Wedow hat erst relativ spät – als 13-Jähriger – mit dem Cellospielen angefangen, doch dank eines sehr guten Lehrers, der seinen Schülern außer den Unterrichtsstunden auch die Chance zu allmonatlichen Konzerten bot, erreichte er Profi-Niveau, kam aufs Konservatorium, dann an die Komische Oper. „Ich konnte mich auf dem Cello immer ausdrücken.“ Bis 1999 blieb er Philharmoniker, bis vor acht Jahren hat er noch Streichquartett gespielt – und Cello-Kontrabass-Duo mit dem Enkel. Inzwischen, sagt er, habe er aufgehört. „Entweder man macht es so, wie man es all die Jahre machen konnte. Oder man lässt es sein.“ Dass es weitergeht – mit den Philharmonikern sowieso, aber auch mit den 12 Cellisten –, das ist ihm eine große Freude.
Die Stab- oder besser Bogenübergabe von Rudolf Weinsheimer zu Martin Menking liegt nun auch schon wieder gut 25 Jahre zurück. Und sie war, erinnert sich Menking im Gespräch mit dieser Zeitschrift, nicht ganz selbstverständlich. „Unser Solocellist Georg Faust hat damals beschlossen, dass das Ensemble Potenzial hat und fortgeführt werden soll. Aber die Leitung der 12 Cellisten wurde ihm zu viel.“ Martin Menking, der seit dem Studium Erfahrung als Kammerensemble-Leiter hatte, übernahm – mit eigens angeschafftem Computer – die vielen organisatorischen Aufgaben, während sich Faust vor allem um frische musikalische Inhalte kümmerte. „Ich bin da so reingepurzelt. Als ich mit den 12 Cellisten anfing, war das Ensemble aber eher so ein Phantom, das Repertoire war bei den Konzerten immer mehr oder minder das gleiche“, so Menking. „Heute wechseln wir die Programme. Das war eben der Impuls von Georg Faust, der die Parole ausgegeben hatte: Lasst uns durchstarten!“
Zum Durchstarten gehörte die Einspielung der ersten Tango-CD der 12 Cellisten. Die vielen Stunden für Proben und Aufnahmen trotzten die Musiker dem ohnehin vollen Zeitplan der Philharmoniker ab. „Es war schon immer eine große Kunst, solche Termine und Konzerte auf die Beine zu bekommen“, sagt Martin Menking. „Ich sage den Kollegen immer wieder, dass das etwas Besonderes ist und eine durchaus zerbrechliche Angelegenheit.“ Ein Cellist eines anderen weltberühmten Orchesters habe ihm mal gesagt, dass es in seinem Orchester undenkbar wäre, „dass alle Cellisten auch nur zusammen zu Abend essen“ – geschweige denn, sich freiwillig in einem Kammerensemble zusammenfinden. „Unser Geheimnis ist eben nicht nur, dass wir alle aus ein und demselben Orchester kommen, sondern auch, dass wir uns ganz gut verstehen.“

Die Jüngeren sind gefragt

Und während das runde Cello-Dutzend angesichts der vielen, vielen Konzerttermine – „über 500 waren es allein in den vergangenen 25 Jahren!“, so Menking stolz – über Jahre nur mithilfe von Aushilfen zusammenzubekommen war, ist die Besetzungslage heute entspannter: Die Cellogruppe der Philharmoniker zählt nicht mehr zwölf, sondern 14 Köpfe. 2007 kam mit der Französin Solène Kermarrec erstmals eine Cellistin dazu, 2009 mit der Britin Rachel Helleur-Simcock die zweite – was im Jubiläumsjahr schon per se ein Medienthema ist. Bei den Philharmonikern im Allgemeinen und den 12 Cellisten im Besonderen sieht man die Geschlechterfrage gelassen. Im Übrigen, so Menking, gelte: „Wer im Probespiel am besten ist, wird genommen, unabhängig vom Geschlecht.“ Dass weitere Frauen ins Orchester und an die Cello-Positionen kommen, ist also wohl hauptsächlich eine Frage der Zeit.
Zu den liebsten Erinnerungen aus der Ensemblegeschichte gehört für Martin Menking ein Konzert 2002 in Südkorea. „Am selben Abend gab es ein Fußball-WM-Spiel Südkoreas gegen die Türkei um Platz 3. Wir sind in den roten T-Shirts der koreanischen Fans angetreten“, was das Konzertpublikum den Cellisten hoch anrechnete und den Jubel ins Ohrenbetäubende anwachsen ließ. Besonders gern denkt Menking auch an die Jubiläumsauftritte der Zwölf zurück, sowohl zum 25- als auch zum 50-jährigen Bestehen, „weil wir auf diese Konzerte besonders fokussiert hingearbeitet haben. Diese Jubiläen haben mich sehr beschäftigt.“ Er hat auch schon all die Memorabilien und Fotos aus 50 Jahren zusammengetragen und gesichtet, „das ist ein riesiger Berg“, der selbstverständlich ins Philharmoniker-Archiv gehört. Denn die 12 Cellisten sind ein entscheidender Teil der Orchestergeschichte.
Das würden wohl selbst Musiker aus ganz anderen Stimmgruppen zugeben, auch wenn da, wie die Cellisten einräumen, immer eine Prise Neid mitschwingt. Alexander Wedow erinnert sich an eine Orchesterprobe, bei der die Celli heftig patzten – und sich den gedehnten Kommentar eines Oboisten einfingen: „Aha, die berühmten 12 Cellisten…“ Martin Menking trägt gelegentliche Sticheleien mit Fassung. „Ohne Neid würde es ja gar keinen Spaß machen“, witzelt er. „Aber diejenigen, die es uns neiden, gönnen es uns auch und sind sogar ein bisschen stolz auf uns.“ Und wenn die 12 Cellisten zu Beginn einer anstrengenden Philharmoniker-Tournee schon am Ankunftsabend ein Konzert geben – dürfen? müssen? –, während alle anderen sich noch von den Strapazen der Anreise erholen können, liegen Neid und Erleichterung dicht beieinander. „Außerdem kann ja jeder der Kollegen auch selbst Kammermusik machen, wenn er will“, betont Menking. Das sei jedem Musiker zu wünschen und dem ganzen Orchester sowieso: Kammermusik-Erfahrung des Einzelnen komme auf jeden Fall dem Orchesterklang und dem Zusammenspiel zugute.
Die 12 Cellisten sind 50, und da, findet Martin Menking, sei es an der Zeit, dass die nächste Generation übernimmt. „Ludwig Quandt ist 60, ich bin Mitte 50. Jetzt sollten sich allmählich die Jüngeren äußern, wie es weitergehen soll.“ Was aber nicht heißt, dass er sich schon zurückziehen möchte; dazu macht ihm die Sache viel zu viel Spaß. „Ich bin mit Überzeugung dabei.“ Und das, weiß er, gilt für alle Cellisten der Berliner Philharmoniker.

Monika Borth: Der siebte Cellist – Aus dem Leben des Berliner Philharmonikers und Gründers der 12 Cellisten Rudolf Weinsheimer, Schott Music, Mainz 2019, 124 Seiten

Das Buch gibt es jetzt auch auf Englisch unter dem Titel The Seventh Cellist.