Andris Nelsons mit dem Gewandhausorchester in London/© Steve Wackerhagen

Manuel Brug

Das Dasein auskosten

Leipziger in London: Selbst mit Strauss ist der Wiederanfang von Konzertreisen schwer

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 9/2022 , Seite 42

Und dann kommt doch noch ein kleiner Johann dazwischen. Nicht dass man sich bei zwei sonst exklusiven Konzerten mit dem großen Richard gelangweilt hätte. Aber Rudolf Buchbinder, der zuvor schon die allzu brillante Burleske wienerisch schmähig hat dreivierteltakten lassen, schmuggelte als Zugabe einen Strauß zwischen die Sträusse – die läufe- und blingblingsatte Fledermaus-Walzer-Paraphrase Soirée de Vienne von Alfred Grünfeld.
Das wiederum passte sehr elegant zum All-Strauss-Programm des Vorabends, bei dem das Gewandhausorchester Leipzig unter seinem Chef Andris Nelsons im Londoner Barbican Centre die Rosenkavalier-Walzerfolge in die Mitte gesandwicht hat, molto robusto, mit eher lettischem Tanzverständnis, ganz nach der Herkunft seines Kapellmeisters – dies nach dem dunklen, fatumsatten, selten zu hörenden Macbeth und vor einem gar nicht stolz geblähten, aber trotzdem blechsatten Heldenleben, dessen Höhepunkte die „Gefährtin“-Soli des wunderfein geigenden Konzertmeisters Andreas Buschatz im Dialog mit dem traumschön reagierenden Tutti sowie der spannungsvoll unendlich verdämmernde Schluss waren.
Und noch mehr dramaturgische Spitzfindigkeiten offeriert diese erste Gastspielreise des Gewandhausorchesters seit zweieinhalb Jahren: Richard Strauss dirigierte bei seinem allerletzten Pultauftritt 1947 in London auch die Burleske. Und das Heldenleben erklang im Barbican Centre zuletzt 2018 unter Mariss Jansons – dem hochgeschätzten Mentor Andris Nelsons’. Aber irgendwie mutet das alles wie Glasperlenspielereien an – angesichts der immensen Verluste, die besonders der internationale Musikbetrieb in über zwei Pandemiejahren zu verkraften hatte. Auch diese Tour kündet brutal davon. Denn so sehr bei den Musiker:innen die Adrenalinkurve gestiegen ist, Motivation schäumt, backstage glückliche Gesichter lachen, im Auditorium nach diesen orchestralen Turboausbrüchen wild geklatscht wird – es ist auch eine Geschichte von Verlust.
Eigentlich sollte dieses ambitiöse Projekt gefolgt werden von Konzerten des Boston Symphony Orchestra, dem gleichfalls Andris Nelsons vorsteht. Der Lette auf instrumentaler Doppelspur durch Europa – nach London in Paris, Hamburg und Wien: noch nie dagewesen und gerade deshalb strahlendes Zeichen des neuen Normal. Dieses sollte ebenso paritätisch klangkörpergeteilt sein wie die seit fünf Jahren geplante, auch unter Pandemiebedingungen mit Proben und Konzerten (teils vor leerem Haus) durchgezogene Strauss-CD-Box bei der Deutschen Gram­mophon.
Ein neues Normal, das es nicht gibt, auch wenn man es sich so schön antizipierte wie die gemeinsame Einspielung des Festlichen Prälu­dium im Herbst 2019 in Boston, als das Gewandhausorchester mit Bundespräsident Steinmeier zum Abschluss des Deutsch-Amerikanischen Kulturjahrs gastierte. Zunächst musste das Boston Symphony Orchestra London absagen, weil durch den Brexit die Zollformalitäten beim EU-Eintritt zeitlich unabwägbar geworden waren. Dann kam dort, nach einem Chorkonzert, ein weiterer Corona-Ausbruch. Die Finanzen sind sowieso flattrig, schließlich befand man angesichts des Kriegs die Ukraine für zu nah: So wurde alles gecancelt. Das stolze Parallelorchester-Surfen als neuer Konzertleben-Anfang bleibt Utopie.
Umso intensiver wirkt, was der vor Konzertbeginn entspannt in Trainingskleidung im Garderobensessel zurückgelehnte Andris Nelsons zu diesem Strauss-Projekt zu sagen hat, das für ihn auf sinfonische CD-Komplett-Zyklen mit Beethoven (Wiener Philharmoniker), Bruckner (Gewandhausorchester) und Schostakowitsch (Boston Symphony) folgt: „Musik von Richard Strauss habe ich schon als kleiner Junge sehr gern gehabt, sie hat mich angezogen. Besonders die leisen Stellen. Ich war nicht melancholisch veranlagt, aber diese weiche, dunkle Musik hat in mir einen Nerv berührt. Gleichzeitig sehe ich da, besonders in den wenigen Filmaufnahmen des alten Strauss, einen vitalen Mann, der sein Dasein auskostet. Auch das möchte ich darstellen. Strauss schreibt so perfekt, dass er bisweilen zum virtuosen Selbstzweck missbraucht wird. Das möchte ich vermeiden. Ich suche die Balance zwischen auftrumpfender Freude, ja Lust, und kontemplativen Momenten, an denen dieser Komponist reich ist.“
Die Freude des Live-Erlebens beim Publikum ist ebenfalls groß. Das spürt man unmittelbar in London. Aber in dieser – wie Orchesterintendant Andreas Schulz bekräftigt – „mit ihren Agenturen, Konkurrenzorchestern, Medien besonders wichtigen Klassikstadt und Tourstation“ ist auch die Flaute riesengroß. Während sich in Wien oder Hamburg zumindest europäische Gastorchester wieder die Klinke in die Hand geben, herrscht an der Themse Ebbe. Ein internationales Orchester pro Monat ist im Barbican Centre zu erleben, keines bis Oktober im South Bank Centre. Und selbst bei den BBC Proms, dem weltweit größten Orchesterfest, ist man weitgehend englisch unter sich.
Keines der Leipziger Konzerte, die von den sonst spitzzüngigen Lokaljournalisten enthusiastisch beurteilt werden, ist ausverkauft, viele Tickets gehen erst last minute über den Tresen. Man kommt zuweilen in Bermuda-Shorts, nimmt selbstverständlich das Pausenweinglas mit in den Saal; Programmhefte gibt es nur noch als Download.
Andreas Schulz plant nächste Tourneen verhalten, sucht nachhaltigere Reiselösungen. Eine Chinatour etwa steht schon aus politisch-moralischen Gründen auf schwächelnden Füßen. So verwundert es nicht, dass auch in Andris Nelsons’ Lesart der Don Juan noch viel Testosteron versprüht, sein Zarathustra aber nach festlichem Fanfarenanfang und tänzerischem Aufbegehren ins Dunkel der Resignation zurücksinkt.