Frauke Adrians

Das Beste aus sechs Jahrhunderten

ICMA-Verleihung in Luxemburg mit Stars von Ádám Fischer bis Frank Peter Zimmermann

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 37

Nach zwei Corona-Jahren kann die Musik seit dem Frühjahr 2022 nicht nur nahezu ungehindert spielen, sie kann sich auch endlich wieder feiern. Am 21. April ging in der Philharmonie Luxemburg die Verleihung des ICMA (International Classical Music Award), abends dann das dazugehörige Galakonzert über die Bühne. Auch im Jahr zuvor hatte es zwar eine feierliche ICMA-Verleihung gegeben – damals bot Liechtenstein den Rahmen –, doch die Pandemie überschattete dieses Ereignis deutlich.
Im Vergleich dazu fand die Gala 2022 nahezu unbeschwert von Covid-19 statt. Zwar konnten drei ICMA-Juroren aus der Schweiz, Norwegen und Spanien wegen akuter Corona-Infektionen nicht nach Luxemburg kommen, aber nur ein einziger Solist, der Klarinettist Martin Fröst, musste dem Konzert aus dem gleichen Grund fernbleiben.
Bei der Preisverleihung am Nachmittag im Kammermusiksaal der Philharmonie war Corona dennoch Thema. „Während der Pandemie eine CD aufzunehmen, war ein Abenteuer“, sagte der spanische Komponist und Dirigent Francisco Coll, der nach seinem Komponisten-ICMA 2019 diesmal den Preis des gastgebenden Orchestre Philharmonique du Luxembourg bekam. Der Tenor Edogardo Rocha und der Dirigent Giulio Prandi, die den Chormusik-ICMA für ihre Einspielung von Rossinis Petite Messe Solenelle entgegennahmen, berichteten, wie sie sich in freiwillige Corona-Quarantäne begaben, um die Aufnahme ohne Infektionsrisiko durchziehen zu können; die bei Arcana erschienene CD war das Opfer wert.
Der International Classical Music Award ist undotiert, genießt aber hohes Ansehen in der Klassik-Szene, denn die Auszeichnungen in 16 CD- und DVD-Kategorien werden weder nach Verkaufs- oder Klickzahlen noch nach Werbeeinnahmen vergeben. Das gleiche gilt für die ICMA-„Special Awards“, die Musikerpersönlichkeiten für besondere Leistungen zuerkannt werden. Zudem ist die Jury – sie besteht aus derzeit 19 Musikkritikerinnen und -journalisten aus 16 europäischen Ländern – in höchstem Maße unabhängig. Pro Nation sind maximal drei Medien vertreten: aus Deutschland der Mitteldeutsche Rundfunk, die Deutsche Welle und das Orchester.
Während Musiker neben Aufnahme-Ses­sions vor allem Livekonzerte brauchen – und sich in den langen Lockdown-Monaten auf die Bühne zurücksehnten –, ist es für Komponisten Alltag, im stillen Kämmerlein zu arbeiten. Das schilderte nicht nur Francisco Coll, sondern auch der Rumäne Sebastian Androne, Träger des Komponisten-ICMA 2022. „Dieser Preis zeigt mir, dass sich die Arbeit in der Einsamkeit doch lohnt.“ Normalerweise bewerbe er sich selbst um Komponistenpreise und Kompositionsaufträge, sagte Androne, für den ICMA jedoch sei er von der Jury „entdeckt“ und vorgeschlagen worden: „Das tut gut!“ Coll pflichtete ihm bei: „Als Komponisten sind wir sehr froh, wenn wir einen Preis bekommen, solange wir noch am Leben sind.“
Der Geiger Frank Peter Zimmermann erhielt den International Classical Music Award 2022 gleich zweimal: in der Kategorie Kammermusik für seine Einspielung der Beethoven-Violinsonaten 8 bis 10 mit dem Pianisten Martin Helmchen und in der Kategorie Konzerte für eine Doppel-CD mit Werken von Beethoven, Berg und Bartók, die er mit den Berliner Philharmonikern aufgenommen hat. Zimmermann bezeichnete Beethovens Violin-Werke als das Neue Testament für Geige – gegenüber Bachs Solo-Sonaten und -Partiten, die ihm als das Alte Testament gelten – und nannte die Berliner Philharmoniker „meine lieben Kollegen, die seit 1985 wie eine Familie für mich sind“.
Einen verbalen Blumenstrauß überreichte er aber auch dem CD-Label BIS, bei dem die Beethoven-CD entstanden ist. „Früher war ich bei einer großen Plattenfirma. Aber dann lernte ich Robert von Bahr kennen“, den BIS-Gründer. Zimmermann wechselte aus Überzeugung zu dem kleinen norwegischen Label. BIS dränge ihn nie, bestimmte Werke aufzunehmen. „Und so sollte es auch sein.“ Gerade für junge Künstler sei es wichtig, ihre Musik selbst auszuwählen, um eine eigene Handschrift entwickeln zu können.
Im Unterschied zum Musikkonzern Warner, der es nicht für nötig befand, jemanden zur Entgegennahme des ICMA für die beste historische Aufnahme (Furtwänglers komplette Studio-Einspielungen in einer 55-CD-Box) nach Luxemburg zu entsenden, freute sich der Pianist Michael Korstick zum 25. Jahrestag seiner ersten CD-Aufnahme so über seinen „Special Achievement Award“, als sei „Weihnachten, Ostern und der 29. Februar an einem Tag“. Dirigent Ádám Fischer hingegen – seit mehr als 40 Jahren an den Pulten der Welt im Einsatz – brummte, der ICMA für sein Lebenswerk sei ja schön und gut, „aber ich hoffe, ich werde noch viel bessere CDs aufnehmen, so gute, dass Sie alles vergessen, für was Sie mich bisher ausgezeichnet haben!“
Dass das Publikum im voll besetzten Großen Saal der Luxemburger Philharmonie das ICMA-Galakonzert nicht so bald vergessen dürfte, das war jedenfalls zu einem guten Teil Ádám Fischers Verdienst. Die Energie, mit der der 72-Jährige den Löwenanteil der sinfonischen Stücke im Programm dirigierte, setzte nicht nur das Orchestre Philharmonique du Luxembourg, sondern auch das Publikum für mehr als drei Konzertstunden unter Dampf. Die Bandbreite der Werke, die das exzellente Orchester unter seiner Stabführung spielte, reichte von Beethovens Leonore-Ouvertüre bis zum jazzigen Finale des Klavierkonzerts Nr. 4 op. 56 des 2020 verstorbenen ukrainischen Komponisten Nikolai Kapustin. Die Solisten und ICMA-Preisträger Frank Dupree (Klavier) und Meinhard „Obi“ Jenne (Percussion) boten nicht nur musikalisch, sondern im Casual-Look mit Turnschuhen auch optisch ein Highlight.
Die neueste Musik im Programm stammte von dem 1989 geborenen Sebastian Androne und dem nur vier Jahre älteren Francisco Coll, der sein Stück Aqua Cinarea selbst dirigierte; die älteste von Thomas Tallis aus dem 16. Jahrhundert. Sowohl das Boreas Quartett aus Bremen, Träger des ICMA für Alte Musik, als auch das Orchestre de l’Opéra Royal de Versailles bewiesen, wie jung Renaissance und Barock sein können. Jakub Hrůša, der mit seinen Bamberger Symphonikern den ICMA für die beste symphonische Aufnahme des Jahres gewonnen hat, gab in Luxemburg ein beflügelndes Gastspiel mit Dvořáks Carnaval-Ouvertüre. Das Finale aber gebührte Ádám Fischer und Frank Peter Zimmermann mit dem Allegro giocoso aus Brahms’ D-Dur-Violinkonzert op. 77: ein Dream-Team, das euphorisch stimmte.