Neuenfels, Hans

Das Bastardbuch

Autobiografische Stationen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. Bertelsmann, München 2011
erschienen in: das Orchester 03/2012 , Seite 69

Der Mann ist ein Phänomen. Als in den späten 1960er Jahren die jungen Wilden aus ihren Kinderzimmern heraustraten und sich aufmachten, die bundesdeutschen Sprech- und Opernbühnen mit dem ihnen als einzig richtig erscheinenden, vom Feuilleton in einer seltsamen Mischung aus Begeisterung und Abneigung mal in den Himmel gehobenen, mal in den Abgrund geworfenen so genannten „Regietheater“ zu bespielen, stand er als einer ihrer Ersten und Besten an vorderster Front. Und er tut es auch jetzt wieder, wo die Ära eben dieses Theaters ausläuft, die Zeit der für gewöhnlich schonungslos nüchtern präsentierten Dekonstruktion des Werks, seine sachliche Durchleuchtung und kritische Kommentierung mittels entzauberter theatralischer Zeichensysteme zu Ende geht. Wo sie übergeht in eine neue Form des Erzähltheaters, das einen Ausgleich zwischen intellektueller Schärfe und auf das Gefühl und die Präsenz des Moments abzielende Sinnlichkeit sucht. Sein 2010 für die Bayreuther Festspiele geschaffener Lohengrin ist ein grandioses Beispiel für eben diese Zusammenführung von rationalem Erkenntniswerk und kulinarischer Bühnenästhetik zu einem Musiktheaterabend, der in selbstbewusster Eigengesetzlichkeit nicht nur einen Teil, sondern den ganzen Zuschauer mit Herz, Verstand und Willen fordert.
Keinem anderen Regisseur des Musiktheaters ist es auf so beeindruckende Weise gelungen, über mehrere Jahrzehnte hinweg das Theater immer wieder neu zu erfinden und sich regelmäßig an die Spitze seiner Interpretatoren und Inszenatoren zu stellen wie Hans Neuenfels. Dem am 31. Mai 1941 als Einzelkind in den gutbürgerlichen Krefelder Haushalt des in Düsseldorf als Oberregierungsrat arbeitenden Vaters und der regelmäßig Künstler des heimischen Theaters einladenden Mutter hineingeborenen Sohn war die Selbstbestimmung und Andersartigkeit von früh an ein geradezu höchstes persönliches Gut, das er bis heute durchaus gerne mit einer gewissen Attitüde vor sich her trägt. Das Bastardbuch heißt denn auch sein neuestes, autobiografisches Werk, dessen Titel einerseits mit den negativen Konnotationen wie Außenseiter und Beschimpfter kokettiert, zugleich aber auch mit unverkennbar stolzgeschwellter Brust auf die etymologisch tieferen Bedeutungsschichten des Begriffs „Bastard“ in jenem des „Hybriden“ verweist, die das eine bestehende Ordnung Überschreitende meinen.
Im Rückblick auf sein nunmehr über siebzigjähriges Leben hebt Neuenfels seine Biografie als großen literarischen Wurf an, der Fiktion durchaus widerspruchslos in sich harmonisiert. Dialoge aus der Kindheit werden wortgenau zitiert, wo sie doch eher gut erzählt als gut erinnert zu sein scheinen. Einen autobiografischen Entwicklungsroman meint man da manchmal in Händen zu halten, regelmäßig auch eine Chronik des deutschen Theaterlebens von den 1960er Jahren bis heute, vor allem aber einen großartigen Diskurs über die Möglichkeiten, Chancen und Funktionsweisen des Theaters. Vor allem deswegen ist das mit einem ausführlichen Werkverzeichnis, Personen- und Sachregister sowie zwei mehrseitigen Bildteilen versehene, gut 500 Seiten umfangreiche Buch besonders lesenswert.
Ulrich Ruhnke