Hans Thomalla

Dark Spring

Shachar Lavi (Mezzosopran), Anna Hybiner (Mezzosopran), Christopher Diffey (Tenor), Magid El-Bushra (Countertenor), Nationaltheater-Orchester Mannheim, Ltg. Alan Pierson

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Oehms Classics
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 77

Leistungsanspruch und Erfolgsdruck lasten auf den vier jungen Leuten in Dark Spring, der neuen englischsprachigen Song-Oper von Hans Thomalla. Der deutsch-amerikanische Komponist (geb. 1975) hat das Auftragswerk für das Nationaltheater Mannheim frei nach dem 1906 uraufgeführten Bühnenstück Frühlings Erwachen von Frank Wedekind konzipiert. Der Stoff dieser „Kindertragödie“ widmet sich dem Menschen, der Pubertät und den seelischen Belastungen und Schäden, die Jugendliche in diesem Lebensabschnitt bis hin zum Suizid erleiden können, wenn – aus welchen Gründen auch immer – die Zuneigung der Elterngeneration ausbleibt. Verkürzt auf nur vier Protagonist:innen zeichnet die Oper nicht die Handlung des Bühnenstücks nach. Vielmehr gibt sie ausdrucksstarke Hörbilder der Charaktere und Emotionen. Das Libretto ist in seiner Textdichte genial gelungen, ebenso die Songtexte von Joshua Clover.
Da ist die junge Wendla, die nicht weiß, wie es sich anfühlt, wenn einen die Eltern schlagen, weil sie selbst, anders als ihre Klassenkameradinnen, noch nie geschlagen wurde. Shachar Lavi (Mezzosopran) singt die Rolle überlegt und klar, gestaltet stimmlich wilder und eindrucksvoller, wenn sie mit „Please, beat me“ ihren Freund Melchior bittet, sie doch einmal zu schlagen. Christopher Diffey singt mit vorsichtigem, aber bestimmtem Tenor einfühlsam die Rolle des Melchior, der sich nach einigem Zögern von Wendla überreden lässt, ihrer Bitte nachkommt – und sie schlägt.
Thomalla komponiert die psychisch vielschichtige und in der Weltliteratur einmalige Szene mit hartnäckigen Sforzati im Klavier, mit anschwellenden Schlagwiederholungen in den Percussions, orientierungslosem Hin und Her in der Klarinette und langgezogenen Tönen, bittend bis sehnsüchtig, in den verschiedenen Einzelstimmen. Das Nationaltheater-Orchester Mannheim, das für diese Produktion zusätzlich mit Kontrabass, Violoncello, Keyboard, Gitarre, Saxofon und Trompete besetzt ist, liefert eine enorm spannende und vielschichtige Klangwelt, die tonal angelegt ist, jedoch atonale Tendenzen aufweist und mitunter neben dem Musikalischen auch das Geräusch, den Lärm und die Stille miteinbezieht.
Besonders innig ist die Rolle des jugendlichen Moritz angelegt. Er steht unter Erfolgsdruck, von Freunden und Mädchen anerkannt zu werden, etwa von Ilse, prägnant gesungen von Anna Hybiner (Mezzosopran). Seine Rolle wird von Countertenor Magid El-Bushra interpretiert, was dem Genderthema und der Suche nach sexueller Orientierung eine musikalisch hörbare Konnotation verleiht. Sein suizidaler Abgesang „But now is it dark“ ist schon mehr ergreifende Opernarie als nur Song.
2020 hatte Dark Spring in Mannheim unter der musikalischen Leitung von Alan Pierson Uraufführung. Die CD-Produktion ist aus Mitschnitten von insgesamt fünf Liveaufführungen zusammengetragen, die inmitten der Corona-Pandemie große, auch internationale Aufmerksamkeit hervorriefen.
Sven Scherz-Schade