Dancing

The Jazzfever of Milhaud, Martinu, Seiber, Burian, Wolpe

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Channel Classics CCS 30611
erschienen in: das Orchester 03/2012 , Seite 79

Die 1920er Jahre stellen bis heute kulturhistorisch ein Jahrzehnt der Selbstvergewisserung dar, in ihm hat sich nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs die Moderne manifestiert. Lässt sich dieser Thematik noch Neues abgewinnen – in Anbetracht einer überbordenden Fülle von Veröffentlichungen?
Die Ebony Band besteht aus Musikern des Concertgebouw Orchesters Amsterdam, sie wird von ihrem Gründer Werner Herbers seit ihrer Gründung 1990 geleitet. Ihr Ziel ist es, insbesondere unbekanntere Werke der Zwischenkriegszeit in Konzerten und mittels Veröffentlichungen zu präsentieren.
Der Titel Dancing ist nicht wörtlich zu nehmen. Tanzen lässt sich zu der auf dieser CD versammelten Musik nicht, sie verkörpert die Erinnerung an Tanz bzw. Tanzvorführungen, verschleiert, geträumt, distanziert. Aus Amerika stammende Tanzmusik wurde von vielen Komponisten in Europa gern aufgenommen, mit ihr ließ sich vom als antiquiert geltenden romantischen Idiom abrücken, ihre synkopengeprägte Rhythmik belebte die Musiksprache. Die Kompositionen bewegen sich zwischen den Polen der Verfremdung einerseits, bei der bei weitgehender Beibehaltung der musikalischen Architektur die Melodik „verbogen“ und die Harmonik angeschärft wird wie in Weills Dreigroschenoper, andererseits der Dekonstruktion und Reduktion auf eine pure Gestik, für die Strawinskys Tango prototypisch stehen könnte.
Zwei Komponisten erfuhren ihre Begegnung mit amerikanischer Tanzmusik unmittelbar: Darius Milhaud in Brasilien und den USA, Mátyás Seiber auf Schiffsfahrten. Milhauds Ballett La création du monde erzählt die Schöpfungsgeschichte in einem meist verhangenen bluesartigen Ton, die beiden Jazzoletten Seibers zeichnen sich durch impulsive, kurzatmige Rhythmen aus. Eine Entdeckung ist die Suite americaine des Tschechen Emil František Burian, in der auch ein „Violophon“, eine Violine mit Schalltrichter, Verwendung findet, sowohl durch die Kuriosität eines fugierten Foxtrotts als auch durch einprägsame Melodiebildungen. Sein Landsmann Bohuslav Martinu ist mit einer viersätzigen Jazz Suite vertreten, bei der eine bislang fehlende Cellostimme rekonstruiert wurde. Stefan Wolpe nutzt in seiner Suite typische Tanztypen wie Tango, Marsch oder Ragtime, um sie in zuweilen herber Klanglichkeit zu entkernen. Das Booklet ist informativ gehalten und liebevoll gestaltet.
Die Ebony Band spielt die Stücke hervorragend, nie aufdringlich, stets unangestrengt, dabei sehr präzise in Rhythmik, Dynamik und im Zusammenspiel. Neben dem zeittypischen starken Vibrato der Streicher trägt auch die Aufnahmetechnik mit ihrer Vermeidung von Grellem zum Reminiszenz-Charakter des Projekts bei. Mit Ausnahme von Milhauds Stück dürften die anderen unbekannt sein. Auch wenn sie kaum zu Repertoirestücken avancieren werden, bieten sie doch Entdeckungen. Durch diese Zusammenstellung lassen sich Verbindungen aufzeigen zwischen den europäischen Metropolen Berlin, Paris und Prag, in denen diese Komponisten tätig waren. Das Nationale spielt kaum mehr eine Rolle. Wie sollte es dies auch, in Anbetracht eines umspannenden Akkulturationsprozesses?
Christian Kuntze-Krakau