Ysaÿe, Eugène, Astor Piazzolla, Dobrinka Tabakova und anderen
Dance of Shadows
Im Beiheft zu seiner CD postuliert der 1976 in Moskau geborene Geiger Roman Mints, dass in einem Zeitalter, in dem die meisten Werke des Repertoires bereits in mannigfachen Interpretationen auf dem Tonträgermarkt vorliegen, zumindest er selbst nur dann gewillt ist, eine CD aufzunehmen, wenn er damit dem Hörer etwas bieten kann, was nie zuvor dagewesen ist eine CD mithin, die er selbst in seiner Sammlung haben möchte. Damit hat er sich ein großes Ziel gesetzt. Doch Mints ist es tatsächlich gelungen, etwas Neues zu schaffen, und dies betrifft weniger die Kombination der Stücke oder deren Interpretation, sondern die Art, wie sie technisch eingespielt wurden.
Den Anstoß dazu gaben die Fragmente Bachscher Musik, wie sie zu Beginn von Eugène Ysaÿes 2. Violinsolosonate in Form einer Obsession (so der Titel des Kopfsatzes) erscheinen. Wie Mints ausführt, hatte er sich lange überlegt, mit welchen spielerischen Mitteln er jenen Passagen den benötigten halluzinatorischen Charakter verleihen könnte. Dann kam ihm die Idee, diese Musik quasi von Ferne erklingen zu lassen indem er sie im Aufnahmestudio an einem anderen, entfernteren Ort spielte als den Rest des Werks. Dieses Konzept der räumlichen Orchestrierung, wie Mints es nennt, ist auf der Einspielung verwirklicht übrigens auch in Alfred Schnittkes A Paganini, wo die Zitate von Paganini und anderen Komponisten räumlich von Schnittkes eigener Musik getrennt sind.
Es war zudem das Ziel des Geigers, jedem der von ihm gespielten Werke durch eine spezielle Aufstellung der Mikrofone seinen eigenen spezifischen klanglichen Charakter zu verleihen. So erklingt die Violine in Astor Piazzollas Tango-Etüde Anxieux e rubato sehr direkt am Mikrofon, fast wie in einer Popmusik-Aufnahme, während sie sich in den introvertierten, am Rande des Verstummens sich bewegenden Figurationen von Valentin Silvestrovs Postludium Nr. 2 in den hintersten Regionen des Studios bewegt. In Dobrinka Tabakovas Stück schließlich begleitet sich Mints im Overdub-Verfahren auf einer Drehleier. Es handelt sich also um das genaue Gegenteil eines Live-Rezitals: Das Studio spielt eine fast ebenso
wichtige Rolle wie der Musiker selbst.
Nun wäre dieser technische Aspekt von nicht allzu großer Wichtigkeit, könnte Mints nicht auch auf rein musikalischer Ebene überzeugen. Dies tut er aber durchaus, indem er seine hohe Virtuosität stets in den Dienst der Kompositionen stellt. Von Ysaÿes Sonate etwa gibt es durchaus rasantere, die Fingerfertigkeit stärker in den Vordergrund stellende Einspielungen. Doch Mints gelingt es nicht nur durch seine räumliche Orchestrierung , den obsessiven Charakter der Musik mustergültig zu verwirklichen. Schnittkes Paganini-Hommage schwankt angemessen zwischen Nonchalance und Wahnsinn, und die Vision einer Musik, die nur ein Echo bereits erklungener Musiken darstellt, gewinnt in Silvestrovs Komposition unter Mints Händen auf faszinierende Weise Gestalt.
Thomas Schulz


