Werke von Sándor Veress, Ursula Mamlok, Marcel Mihalovici und anderen

Crossroads

Adele Bitter (Violoncello)

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Eda Records
erschienen in: das Orchester 9/2022 , Seite 70

Kreuzungen, Ortsbestimmungen, Neuorientierungen. Es geht um zentrale Fragen künstlerischer und persönlicher Identität: Woher komme ich? Wohin führt mein weiterer Weg? Was bedeuten Geburt, Nationalität, kulturelle Prägung für Schaffenswege von Künstler:innen, wie wirken sich „Crossroads“ auf ihr Werk aus? Fünf Komponist:innen des 20. Jahrhunderts sind hier zu erleben. Allen ist gemeinsam, dass sie ihre Heimat verlassen, „zweite“ Heimatländer gefunden und die Richtungsänderungen in ihren Werken reflektiert haben. Mit den Ortswechseln verbanden sich ästhetische Perspektivwechsel, neue Impulse belebten das schöpferische Tun, zugleich veränderte sich aus der Ferne der Blick auf die vertraute Herkunftsregion.
Sándor Veress, in seiner ungarischen Heimat hoch angesehen, sah sich Repressalien des kommunistischen Regimes ausgesetzt und ging ins Schweizer Exil. Marcel Mihalovici und Ahmed Adnan Saygun wandten sich in den 1920er Jahren nach Paris, um im bedeutendsten Zentrum der musikalischen Welt zu studieren. Während der Rumäne Mihalovici für den Rest seines Lebens dort verblieb, kehrte Saygun in seine türkische Heimat zurück und wurde zu einer zentralen Persönlichkeit im dortigen Musikleben. Der Argentinier Alberto Ginastera verlor nach dem Militärputsch 1966 seine Lehr­ämter und emigrierte ebenfalls in die Schweiz, die Berlinerin Ursula Mamlok, als Jugendliche vor den Nazis geflohen, erlebte in den USA eine erfolgreiche Karriere und kehrte erst mit 83 Jahren in ihre Heimatstadt zurück.
Alle fünf haben spannende Musik für Cello geschrieben, in der sich zum Teil scheinbar entlegene Wege wie Volksmusik und Zwölftontechnik kreuzen: Sonaten von Veress und Mihalovici, Sayguns Partita „Zum Gedenken an Friedrich Schiller“, Mamloks punktualistische Fantasy Variations sowie aus der Feder Ginasteras die Evokation eines „Ur-Argentinien“ mit perkussiven Folklore-Anklängen.
Die Werke finden in Adele Bitter eine grandiose Interpretin. In ihren klugen Booklet-Anmerkungen erläutert sie die Konzeption der CD und stellt zugleich sich und ihren Werdegang vor: eine geglückte Kombination der zumeist getrennten Bereiche „Einführungstext“ und „Interpreten-Vita“. Adele Bitter ist Mitglied des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und verfügt durch intensive Beschäftigung mit Alter und Neuer Musik über ein breites stilistisches Spektrum. Sie meistert die erheblichen technischen Herausforderungen der Werke souverän, mit glasklarer und zugleich intensiv leuchtender Tongebung.
Die Qualität dieser fabelhaften Produktion basiert jedoch nicht allein auf blitzsauberem Spiel bis in höchste Lagen, perfekten Doppelgriffen, beseeltem Legato, knackiger Bogenattacke und raffinierten Klangeffekten – wiewohl all dies hier genossen werden kann! –, sondern über alledem auf dem spürbaren Engagement der Interpretin für eine bedeutende Botschaft, die in Worten Constantin Brâncușis der CD als Motto voransteht: „In der Kunst gibt es keine Ausländer.“ <
Gerhard Anders