Genoël von Lilienstern

couture

Johanna Vargas, Soetkin Elbers (Stimmen), Ensemble Garage, Ltg. Mariano Chiacchiarini; Benjamin Kobler, Lars Jönsson (Synthe sizer), SWR Sinfonieorchester, Ltg. Ilan Volkov; Ensemble Interface, Ltg. Scott Voyles

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo
erschienen in: das Orchester 10/2023 , Seite 70

Reverb-Sounds sind das klingende Markenzeichen des 80er-Pop: die sogenannte „Gated-Reverb-Snare“ zum Beispiel, ohne die Phil Collins‘ Jahrhunderthit In the air tonight nur die Hälfte wert wäre. In Top für Ensemble lässt Genoël von Lilienstern diese Sound-Chiffre zusammen mit einem One-Note-Staccato eines Synthesizers die Bühne betreten und für wenige Momente einen Disco-Song erwarten. Doch nichts dergleichen geschieht. Stattdessen Abbruch, Neuanfang, Beschleunigung des Tempos, Wechselspiel mit perkussiv eingestreuten Synthesizer-Akkorden. Genoël von Lilienstern sammelt diese Sounds wie objets trouvés auf, wie Bruchstücke einer untergangenen Ästhetik und betrachtet sie neu.
Das Ensemble, für das Top geschrieben wurde, vereint Flöte, Klarinette, Violine und Cello sowie einen Synthesizer der Serie Yamaha DX7 – ebenfalls ein die 80er prägendes Instrument – und E-Drums. Keineswegs ist es Lilienstern darum zu tun, einen Gegensatz von beseelten und technisch-kalten Klängen oder von Alt und Modern zu konstruieren. Vielmehr, so ist im Booklet zu lesen, entfalte sich hier – und auch in den anderen Werken dieser CD – eine „Retrokultur zweiter Ordnung“. Der 1979 geborene Komponist setze sich mit der „kommerziellen Verwendung von Musik, Sound und Sprache in Radiowerbung, mit Internetkultur und der unbegrenzte Verfügbarkeit klingenden Materials und schließlich mit Klangidiomen des Mainstream-Pop der 1980er Jahre auseinander“, so Julian Kämper in seinem Booklet-Beitrag.
Nachdem zu Beginn von Top sich noch ein irritierender Retroeffekt einstellt, behandelt von Lilienstern seine Klänge zunehmend wie abstraktes Material für sich selbst genügende Kammermusik. Am Ende jedoch wird man von den 80ern wieder eingeholt: mit dem Intro zu Jump, dem Hit von Van Halen. In den anderen Stücken greift von Lilienstern auf Collageverfahren zurück. In Big Picture für Sopran, Sampler und Ensemble wimmelt es nur so von Referenzen aller Art: Zitate von Toto, Mladen Franko, Donald Trump, Werbung für Champagner oder Ramen-Suppe, das meiste davon während einer Stunde aus dem Angebot weltweiter Internet-Radiostationen gesammelt: ein akustischer Vogelflug über den Planeten.
Couture spielt wieder mit unterschiedlichen Traditionen: hier ein Orchester, dort Drum-Synthesizer und Sampler. Turbulent geht es in Voz Comercial zu: Radioreklamen aus Mexiko, Peru und Ecuador hat von Lilienstern für Ensemble und Stimme transkribiert und daraus ein äußerst temporeiches und assoziationsgewaltiges Hörstück kreiert. Die Sopranistin Johanna Vargas und das Ensemble Garage leisten hier Außerordentliches. Dasselbe gilt auch für die übrigen Ausführenden.
Mathias Nofze