Frank Martin

Concerto pour violon et orchestre / Esquisse pour orchestre

Svetlin Roussev (Violine), L‘Orchestre de Chambre de Genève, Ltg. Arie van Beek

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Claves 5
erschienen in: das Orchester 12/2021 , Seite 78

Mit der eigenwilligen Synthese unterschiedlicher musikalischer Einflüsse ist die Musik des Schweizer Komponisten Frank Martin nur schwer irgendeiner „Richtung“ zuzuordnen: Zwölftontechnik (die nichtsdestoweniger immer tonal gebunden bleibt), Neoklassizismus, französische Romantik und Impressionismus gehen als Komponenten in einen trotz dieser Heterogenität doch unverwechselbaren Personalstil ein, der überdies geprägt ist durch harmonische Archaismen, markante Rhythmik und polyfone Strukturen. Wie sehr sich Martins Klangsprache über die Jahrzehnte kontinuierlich entwickelte und dabei trotz wechselnder Schwerpunkte eine charakteristische Farbe bewahrte, zeigt die Einspielung zweier Werke aus verschiedenen Schaffensperioden.
Das Violinkonzert, entstanden Anfang der 1950er Jahre, steht in Zusammenhang mit der intensiven Beschäftigung mit Shakespeares Der Sturm, welcher auch Martins zur gleichen Zeit entstandenem ersten Werk für Musiktheater zugrunde liegt. Freilich ist das Konzert deshalb noch keine Programmmusik. Martin hält sich formal an das klassische, dreisätzige Vorbild mit großer Solokadenz im ersten Satz, langsamem Mittelsatz und energiegeladenem Finale. Einzig die aparte Instrumentation, vor allem in der Orchestereinleitung, mag die geheimnisvoll schillernde Welt Prosperos evozieren, deren Atmosphäre den durchweg transparenten Orchestersatz und die schwebende Melodik der Violine bestimmt.
Das Genfer Kammerorchester unter Arie van Beek und der bulga-rische Solist Svetlin Roussev treten hierbei in einen sehr gut ausbalancierten Dialog, der fernab von auftrumpfender Virtuosität oder orchestralem Pathos am besten mit kontrollierter Schönheit und rationaler Sinnlichkeit zu beschreiben wäre. Im Finalsatz werden im Übrigen noch einmal die Koordinaten hörbar, zwischen denen Martins Musik aufgespannt ist: Erinnert das Kopfmotiv mit seinem Quartaufstieg an Schönbergs 1. Kammersinfonie, so erscheinen in der neoklassizistischen Motorik zuweilen Strawinsky’sche Anklänge, aber auch Gesten, die beispielsweise an César Franck denken lassen.
Neben der formalen Geschlossenheit des Violinkonzerts wirkt die gut 30 Jahre vorher entstandene Esquisse weniger diszipliniert. Das Werk stammt aus einer Zeit, in der Martin stilistisch noch auf der Suche war. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass uns schon hier auf Schritt und Tritt Charaktere begegnen, die typisch für die späteren Werke sind. Wenn auch die rhapsodische Reihung kontrastierender Abschnitte zuweilen etwas ziellos erscheint und daher der Gefahr zeitweisen Leerlaufs nicht entgeht, lässt die zupackende Einspielung dennoch keine Langeweile aufkommen, weil sie die klangliche Leichtigkeit und Raffinesse der Partitur, aber auch deren Humor betont, mit dem ein irgendwo zwischen Mussorgsky und Ravel angesiedelter Walzer den grotesken Höhepunkt des Stücks markiert, bevor es mit einem verebbenden Einzelton der Hörner wie im Nichts verklingt.