Lachenmann, Helmut

Concertini/Kontrakadenz

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ensemble Modern Medien EMSACD-001
erschienen in: das Orchester 02/2008 , Seite 64

Das Hören von Helmut Lachenmanns Kompositionen ist immer ein Erlebnis. So sperrig sie bei der ersten Begegnung in ihrer Verweigerung des Vertrauten auch sein mögen, so überraschend sind sie durch die Möglichkeit neuer klanglicher Erfahrungen, indem sie dem Hörer den Boden des Vertrauten unter den Füßen wegziehen. Das Ensemble Modern hat für seine neueste Einspielung Lachenmanns jüngste Komposition, die 2005 in Luzern uraufgeführten Concertini, mit der 1970/71 entstandenen Kontrakadenz kombiniert und so einen spannenden Blick auf die Entwicklung dieses in seiner Klangsprache radikalen Komponisten ermöglicht.
In Kontrakadenz verbindet Lachenmann akustische Situationen, die einem gewöhnlichen Sinfonieorchester fremd sein mögen. Ungewohnte Spieltechniken fallen zusammen mit zahlreichen Sonderinstrumenten, zu denen neben mehreren Rundfunkgeräten auch Styroporscheiben, große Münzen, Porzellanteller oder Tischtennisbälle gehören. Das akustische Ergebnis dieser Kombination ist auch heute, 36 Jahre nach der Uraufführung noch eine Herausforderung und in der Einspielung des Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Markus Stenz eine Entdeckung. Denn in welchem zeitgenössischen Werk kann man neben dem Klang der genannten Sonderinstrumente auch Tonschnipsel aus dem Pop-Song Would I lie to you? von Charles and Eddie hören?
In Concertini, den konzertanten Situationen für 27 Musiker, verwendet Lachenmann zwar noch immer seine damals wie heute revolutionären Spieltechniken, mit denen er auf den Grund der Klangentstehung fühlt, die Einzelaktionen werden aber zunehmend durchsetzt mit satten Klängen, kreischenden Kaskaden, aufbrausenden und blitzartig wechselnden Klangereignissen. Diese Musik ist wie ein machtvoller Rausch, der einen nicht mehr loslässt. Wie ein irrlichterndes Kaleidoskop verdichten sich die Klänge zu einer meisterlichen Gesamtschau von sublimer Schönheit. In ihr spürt man die ungeheure Lust des Komponisten am grenzüberschreitenden Klang. Gegenüber Kontrakadenz klingen die Concertini heiter. Der Grundton ist heller als alles andere, was der Komponist bisher geschrieben hat.
Das Ensemble Modern Orchestra spielt die virtuos-komplexe Partitur unter der Leitung von Brad Lubman auf überwältigendem Niveau. Alles an dieser Musik ist aufregend, angefangen vom ersten Schlag auf den Rahmen des Flügels bis hin zum Ausklang durch die Cymbales antiques. Die Instrumente übergreifenden Aktionstypen und Artikulationsformen, zu denen ein Scharrkonzert, Soli für Raumbewegungen, für Resonanzen, Klangsequenzen und rhythmische Gestalten gehören, werden dank einer überaus gelungenen tontechnischen Umsetzung (Udo Wüstendorfer) hörbar. Wenn die Musik von Helmut Lachenmann wie in dieser Einspielung nicht nur musikalisch, sondern auch aufnahmetechnisch auf derart hohem Niveau umgesetzt wird, dann ist das Hörerglück auch daheim mit zwei Lautsprecherboxen nahezu perfekt.
Tobias Werner