Antonio Vivaldi

Concerti per violino VII „Per il Castello“

RV 257, 273, 367, 371, 389, 390. Alessandro Tampieri (Violine),

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naïve
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 71

Zu den eher ungelösten Rätseln im Leben Antonio Vivaldis gehört sein fluchtartiges Verlassen Venedigs im Jahr 1740. Der anschließende Versuch, in Wien Fuß zu fassen, scheitert. Er wird kaum beachtet, sein Musikgeschmack gilt als überholt, Aufträge bleiben aus. Vivaldi stirbt 1741, nur ein Jahr später, und wird in einem Armengrab beigesetzt. Allerdings existieren Belege, dass der Komponist zuvor noch eifrig versuchte, seine Werke zu verkaufen. So konnte sich Graf Collalto glücklich schätzen, 15 Violinkonzerte Vivaldis zu erwerben, von denen sechs nun in einer Neueinspielung bei Naïve vorliegen.
Als Solist ist Alessandro Tampieri zu erleben, der Konzertmeister der ihn begleitenden Accademica Bizantina. Das Ensemble musiziert in der zeitbedingt richtigen Besetzung 3/3/2/2/1, dazu Cembalo und gelegentlich Laute. In allen sechs Konzerten geht die Truppe dabei die Musik Vivaldis mit Feuer und Leidenschaft an, allerdings nie ruppig, dagegen mit gekonnten dynamischen Kontrasten sowie mit inniger Süße in den zarten Momenten der langsamen Sätze. Somit ist diese Einspielung mehr als über jeden Zweifel erhaben.
Solist Tampieri spielt ein Instrument aus der Werkstatt von Marco Min­nozzi (Ravenna, 2014), das er mit einem Bogen aus dem Jahr 1730 streicht. Ihm, dem Ensemble und den verantwortlichen Tonmeistern gelingt eine Aufnahme von beeindruckender Dichte und Qualität – gleichsam Kammermusik in Konzertsaal-Atmosphäre. Nie ist der Solist zu präsent, auch die leisesten Schleifen der gelegentlich im Continuo verwendeten Barocklaute schmeicheln unaufdringlich und klar dem Ohr. Und ein gelegentliches Schnaufen bei Auftakten verrät wohltuend, dass hier Menschen sich einer gemeinsamen Sache verschrieben haben.
Auffällig am Stil dieser „Spätwerke“ Vivaldis ist eine durchaus intendierte harmonische Vereinfachung, eine Hinwendung zum Empfindsamen und Galanten. Dies ist vor allem in den beiden B-Dur-Konzerten RV 257 und 376 zu spüren. Andere Konzerte dagegen, wie etwa das e-Moll-Konzert RV 273, bedienen noch eher den gängigen „Vivaldi-Sound“, ohne allerdings Meterware im Sinne eines ewigen Eigen-Plagiats seiner „Vier Jahreszeiten“ zu sein.
Schon allein unter diesem Aspekt kommt dem Repertoirewert der hier vorliegenden Einspielung eine nicht unwichtige Bedeutung zu, denn der 62-jährige, noch immer komponierwütige Vivaldi sitzt um das Jahr 1740 wahrhaft zwischen den Stühlen zweier Stilepochen. Daher bieten die Konzerte ein schönes Beispiel für den Zwiespalt einer einstmals so bewunderten Lichtgestalt. Heerscharen von Tonsetzern pilgerten seinetwegen in den 1720er und 1730er Jahren in die Lagunenstadt. Nur einer nicht, der unumstritten Größte: Johann Sebastian Bach. Der war allerdings von Vivaldis Musik derart begeistert, dass er in seiner Weimarer Zeit gleich mehrere Konzerte des Venezianers für die Orgel umschrieb und selbst spielte. Und das kommt einer Art Ritterschlag aus dem fernen Thüringen gleich.
Thomas Krämer