Antonio Vivaldi

Concerti per violino VI „La boemia“

Fabio Biondi (Ltg. und Solovioline), Europa Galante

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naïve OP 30572
erschienen in: das Orchester 04/2019 , Seite 69

Weniger Bekanntes vom berühmten Vielschreiber: Vivaldi ist ein Fass ohne Boden bzw. leuchtet wie ein Kaleidoskop in immer anderen Farben. Und das, obwohl ja gerade ihm nachgesagt wurde, dass er immer das Gleiche komponiert habe in hundertfacher Ausführung. Nun ja, daran mag ein Körnchen Wahrheit sein, gewiss, aber doch nicht mehr. Freilich erkennt man auch diese Concerti sofort als solche des Venezianers wieder, so wie man Mozarts Klavierkonzerte und Mahlers Sinfonien auch sofort erkennt. Aber dennoch sind diese sechs Concerti, die Fabio Biondi und das Ensemble Europa Galante für Naïve einspielte, irgendwie grundverschieden.
Die Werke lassen sich durch Papieranalysen und „im Lichte jüngster Forschungen“ als Teil seiner 1730/31 in Böhmen entstandenen Kompositionen ziemlich genau zuordnen, auch wenn sie stilistisch mal eher dem Jugendwerk, mal späteren Phasen ähnlich sind: Als Zyklus waren diese Stücke ganz offensichtlich nicht geplant (dazu sind sie zu unterschiedlich), aber als „Korpus“ ergeben sie einen zeitlich und räumlich eingrenzbaren interessanten Querschnitt durch Vivaldis Arbeitsleben.
Offenbar wurden sie für diverse Auftraggeber geschrieben: Gelegenheiten, die sich eher zufällig boten und höchst unterschiedliche stilistische Anforderungen mit sich brachten. Bezüge auf „böhmische“ Traditionen lassen sich darin kaum finden, aber ganz sicher hatten diese Werke, die zum Teil für Prag entstanden, Einflüsse auf die dortige Musikwelt (aus der immerhin ein Johann Stamitz hervorging, der ab 1750 in Mannheim wirkte).
Die stilistische Vielfalt der hier präsentierten sechs Violinkonzerte ist enorm. So erscheint das Konzert in D-Dur RV 186 wie ein Jugendwerk, ohne große technische Raffinesse, während das e-Moll-Werk RV 278 weit komplexer ist und als Alternative für den „Sommer“ in den „Jahreszeiten“ herhalten könnte: Die äußerst ungewöhnlichen Harmonien des Largo-Mittelsatzes zeigen Vivaldi darüber hinaus als durchaus experimentellen Komponisten, der mit dunklen, chromatisch gefärbten Klängen ebenso düster malen konnte, wie er es mit glitzerndem Geigen-Licht häufig tat.
Die „Reifezeit“ des Komponisten kommt im B-Dur-Konzert RV 380 durch, das auch seine etwa gleichzeitig entstandenen Opern spiegelt und einen eher galanten Stil aufweist. Jugendlichen Virtuosendrang zeigen die Konzerte RV 288 und 330, während RV 282 wieder reich an Finessen ist.
Fabio Biondi und Europa Galante bieten das böhmische Konvolut auf musikalisch höchstem Niveau dar, historisch geschult und erfahren durch zahlreiche frühere Vivaldi-Einspielungen. Referenzaufnahmen ohne Frage, die die enorme Fantasie des Italieners aufleuchten lassen. Sie bereichern die Naïve-Reihe um eine höchst interessante Detailsicht auf Vivaldis Schaffen.
Matthias Roth