Leone Sinigaglia

Complete Works for String Quartet 1

Archos Quartet

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naxos
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 76

Um das Jahr 1900 war in Italien keine gute Zeit für Kammermusik. Einer der ersten, die sich dort der Vorherrschaft der Oper entgegenstemmten, war der Komponist (und Bergsteiger) Leone Sinigaglia (1868-1944). 1894 übersiedelte er nach Wien, wo er Johannes Brahms kennenlernte. Zur Jahrhundertwende zog es ihn dann für ein Jahr nach Prag als Privatschüler von Antonín Dvořák.
Das Ende seines Lebens war tragisch: Als Jude war er von der Deportation bedroht, und genau in dem Moment, als man (nach einigen Quellen die faschistische Polizei, nach anderen die SS) ihn in jenem Krankenhaus festnehmen wollte, in dem er sich zusammen mit seiner Schwester versteckt hielt, erlitt er einen Herzinfarkt, an dem er sofort verstarb. Seine Schwester folgte ihm wenige Tage später.
Auf dieser neuen CD sind sechs Werke für Streichquartett von Sinigaglia erstmals eingespielt. Sie zeigen eine geläufige Mischung von tänzerischen und gesanglichen Elementen. Manchmal verzettelt der Komponist sich ein wenig in der Fülle seiner Einfälle.
Formbewusstsein und Tiefgang zeigen sich vor allem in den Variationen über ein (leider nicht näher bezeichnetes) Thema von Brahms op. 22 (1901), wobei nur eine einzige der 16 Variationen länger als eine Minute dauert, und die kaum dreiminütige Hora Mystica (1890). Sinigaglias einziges großes, viersätziges Streichquartett D-Dur op. 27 nimmt mit gut 32 Minuten ziemlich genau die Hälfte der Silberscheibe ein.
Das 2009 an der Musikhochschule Lübeck gegründete und inzwischen in Polen ansässige Archos Quartet mit Filip Jeska und Mikołaj Pokora (Violine), Radenko Kostadinov (Viola) und Francesca Fiore (Violoncello) spielt das alles durchaus präsent und mit Gespür für Sinigaglias Eigenart. Es fehlt dabei freilich ein wenig an Herzblut und an jener scheinbaren Leichtigkeit nach Art von Sinigaglias frühem Vorbild Felix Mendelssohn Bartholdy. Zum Beispiel wirkt das fast vierminütige Scherzo op. 8 (1892) hier fast lieblos heruntergespielt – umso leuchtender wirkt danach die Hora Mystica. Zum Naxos-Niedrigpreis reicht es insgesamt, um diese Musik kennenzulernen.
Da dies ein „Vol. 1“ ist, das bereits die wohl wichtigsten Werke dieses Komponisten für diese Besetzung enthält, darf man auf ein „Vol. 2“ gespannt sein. Noch interessanter wären jene Kompositionen, in denen sich der gebürtige Turiner auf Anraten Dvořáks der Volksmusik seiner Heimat zuwandte. Neben zahlreichen Volksliedarrangements für die verschiedensten Besetzungen (darunter auch für Streichquartett) sind das vor allem die Rapsodia piemontese für Violine mit Klavier oder Orchester op. 26 (1900) oder als Orchesterwerke die Danze piemontesi op. 31 (1903) und die Suite Piemonte op. 36 (1909).
Ingo Hoddick