Jaëll, Marie

Complete Works for Piano 4

Cora Irsen (Klavier), WDR Funkhausorchester, Ltg. Arjan Tien

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Querstand VKJK 1608
erschienen in: das Orchester 09/2017 , Seite 73

Lange Zeit war Marie Jaëll (1846-1925) nur als Pädagogin und Schöpferin einer nach ihr benannten Methode des Klavierspiels bekannt, in der sie sich – ungewohnt und innovativ für ihre Zeit – mit neurophysiologischen und physiologischen Aspekten des Anschlags beschäftigte. Dabei zählte die im Elsass geborene Pianistin zu den bemerkenswertesten Musikerinnen des 19. Jahrhunderts, reiste mit ihrem Mann Alfred Jaëll, ebenfalls Pianist, konzertierend durch Euro­pa und betätigte sich nicht zuletzt auch als Komponistin. Und Marie Jaëlls Werke wurden von bedeutenden Tonsetzern hoch gelobt – so von ihrem Lehrer Camille Saint-Saëns, der sie mit einem über die Ufer tretenden Wildbach, der mit der Zeit seinen eigenen Weg finden würde, verglich. Franz Liszt, der ihr großes Vorbild war und mit dem sie nach dem Tod ihres Mannes in Weimar zusammenarbeitete, sagte über die Künstlerin: „Stünde der Name eines Mannes auf ihren Partituren, sie würden in ganz Europa gespielt.“
Die Pianistin Cora Irsen hat ihren Ehrgeiz daran gesetzt, im Laufe der vergangenen Jahre das gesamte Klavierwerk Jaëlls für das Label Querstand einzuspielen. Die hier vorliegende Folge 4 mit den beiden Klavierkonzerten markiert nun den Abschluss des Zyklus. Und wie klingt nun die Musik dieser Komponistin, die von sich behauptete: „Ich bin kein Weib, ich bin ein dunkler, feuersprühender Vulkan“? Es sind Äußerungen eines starken, unabhängigen Geistes, so viel ist sicher. Vielleicht lassen sich in den beiden Konzerten Vorbilder ausmachen: Brahms in der expansiven dreisätzigen Anlage des ersten Konzerts d-Moll, das Spätwerk Liszts vor allem im knapperen, 1884 in Weimar entstandenen Nachfolger. Vor allem harmonisch geht Jaëll eigene, oft unvorhersehbar erscheinende Wege, wie sich gleich zu Anfang des d-Moll-Konzerts zeigt. Pianistisch stellen die Werke größte Anforderungen, die von Cora Irsen auf bewundernswertem Niveau gemeistert werden. Anschlagskultur, rhythmischer Feinsinn und vor allem Gestaltung der formalen Struktur lassen keinerlei Wünsche offen. Das WDR Funkhausorchester unter der Leitung von Arjan Tien unterstützt die Solistin sehr zuverlässig, wenngleich manchmal, auch klanglich, ein wenig pauschal.
Wenn man indes die anderen Folgen der Serie ebenfalls gehört hat, drängt sich manchmal der Gedanke auf, dass die Beherrschung der großen Form – und der Orchestration – vielleicht doch nicht Jaëlls größte Stärke war: Im nicht immer leicht zu überblickenden Verlauf der Ecksätze des d-Moll-Konzerts zeigen sich gelegentlich auch Längen. Weit persönlicher – und harmonisch noch wagemutiger – äußert sich die Komponistin in ihren Solowerken, etwa im Zyklus der 18 Klavierstücke nach Dantes Göttlicher Komödie. Dieser bildet den zweiten Teil von Irsens Jaëll-Gesamteinspielung und sei an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen (VKJK 1508). Ebenso sei erwähnt, dass Cora Irsen eine Biografie über Marie Jaëll mit dem Titel Die charmante Unbekannte geschrieben hat, die 2016 bei der Weimarer Verlagsgesellschaft erschienen ist.
Thomas Schulz