Boris Lyatoshynsky

Complete Symphonies

Ukrainian State Symphony Orchestra, Ltg. Theodore Kuchar

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naxos
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 68

Die Musiksprache des Lehrers von Walentyn Silvestrow, Leonid Hrabowsky und Jewhen Stanko­wytsch changiert zwischen den Ausdrucksmöglichkeiten der Spätromantik und den polytonalen Klangwelten von Schönberg bis Strawinsky. Ebenso schillernd wie die wechselnden stilistischen Neigungen Boris Lyatoshynskys (1895 – 1968) entlang der Werkgeschichte gibt sich dessen Orchestersatz. In seinen späten dreißiger Lebensjahren orientierte er sich zunehmend an slawischer Volksmusik, allerdings ohne sich auf ukrainische Folklore zu beschränken.
Nimmt man einmal Strömungen, die den Kiewer Komponisten beeinflusst haben mögen, beiseite, so blieb über Jahrzehnte hinweg, etwa von 1917 bis 1966, seine persönliche Tonsprache höchst individuell und auch zu jeder Zeit wiedererkennbar. Interessant ist der Kontrast zu dem etwas jüngeren Zeitgenossen Witold Lutosławski im Nachbarland Polen, dessen Aufbruch in die Moderne deutlich radikaler erscheint. Lässt dieser die Tonalität im Hinblick auf alle Parameter hinter sich, so wirkt Lyatoshynskys eigentümliche Diktion stärker von einem gleichmäßigen, nicht selten explizit im Schlagwerk pulsierenden Rhythmus geprägt. Das flirrende Auf- und Abwogen der hohen Oberstimmen, insbesondere der Flöten und Violinen, prägt besonders die Durchführungsteile seiner Sinfonien. Markant ist auch die Behandlung der tiefen, beschwörenden Blechbläserpassagen, die mit dem höherfrequenten Instrumentarium konkurrieren, jedoch gänzlich andere Melodieführungen und harmonische Gestaltung aufweisen. Die schroffe Repräsentation von Motiven, ihre Fortspinnung und die Entfaltung von Themen erinnert an Ouvertüren in gemäßigtem Tempo, während sich die Bewegung der hohen Orchesterstimmen an einer eher impressionistischen Satzweise orientiert. Lutosławski vergleichbar legt Lyatoshynsky dissonante Akkorde auf Taktschwerpunkte, akzentuiert sie scheinbar willkürlich. Erzeugt wird ein simultanes Schweben von Stimmengruppen auf unterschiedlichen Frequenzebenen, die sich gegenseitig aber nicht berühren, sondern vielmehr kontrapunktisch und polyfon hinsichtlich des Parameters Klangfarbe agieren. Diese dominierenden Höreindrücke wechseln gelegentlich mit homogeneren Satzstrukturen, die außerordentliche melodische Schönheit aufweisen.
Zu einer tonalen Tonsprache findet Lyatoshynsky zurück, sobald er sich folkloristischer Melodien und deren poetischer Stofflichkeit annimmt. Der große, den Schall vielfach verstärkende Orchesterraum, den Theodore Kuchar mit dem eindringlich musizierenden Kiewer Staatsorchester für die Aufnahmen bespielt, transportiert in nahezu idealer Weise die Erfordernisse der wohl einzigartigen sinfonischen Klangwelten des ukrainischen Tonkünstlers an und über der Schwelle zur radikalen Moderne.
Hanns-Peter Mederer