Mieczysław Weinberg
Complete Sonatas für Solo Viola
Viacheslav Dinerchtein
1925 berichtete Wilhelm Trendelenburg in seinen Natürlichen Grundlagen der Kunst des Streichinstrumentenspiels über den seinerzeit renommierten Hermann Ritter, er sei „der Ansicht, dass die gewöhnliche Bratsche […] viel zu klein [sei], um für ihre Tonlage die richtige Resonanz zu geben“. Da nicht davon auszugehen ist, dass Viacheslav Dinerchtein eine überdimensionierte Bratsche von – wie Ritter berechnet und gefordert hat – 53,5 cm Korpuslänge spielt, sondern eine „normale“, ist auch die „richtige Resonanz“ wohl auf sein bratscherisches Können zurückzuführen.
Dies zeigt sich tatsächlich in jedem Takt dieser Aufnahme der vier Solosonaten für Viola von Mieczysław Weinberg. Der 1976 geborene schweizerisch-russische Bratschist Viacheslaw Dinerchtein, der in den 1990er Jahren nach Mexiko auswanderte (dort entstand auch diese Einspielung), beherrscht sein Instrument und die Gestaltung damit auf beeindruckende Weise. Technisch quasi unfehlbar, trifft er nicht nur intonatorisch jeden Ton – was bei dem virtuosen Anspruch der Werke nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit ist –, er trifft vor allem den Ton Weinbergs, dieses polnisch-jüdischen Komponisten, der im Dezember seinen 100. Geburtstag feiern würde.
Dinerchtein erzählt auf seiner Bratsche Geschichten. Lange Geschichten. Beinahe symphonisches Ausmaß besitzen diese teilweise fünfsätzigen Sonaten mit jeweils gut zwanzig Minuten Spielzeit und einer weiten, mitunter Formen sprengenden Anlage. Diese Musik ist nicht besonders schmeichelhaft, aber Dinerchtein entlockt ihr das Inwendige, Intime, Elegante. Den fast schrillen Anfang der dritten Sonate beispielsweise kontrastiert er gelungen mit dem sonoren zweiten, wobei seine Bratsche in hohen Lagen nicht wie eine Geige klingt und in tiefen nicht wie ein Cello, sondern eben immer wie eine Bratsche, und darin besteht doch die eigentliche Kunst des Bratschenspiels.
Dinerchtein lädt zum Zuhören ein. Er sendet eine Botschaft. Er will dem Hörenden diese zunächst sperrig anmutenden Klänge nahebringen, diese teilweise ferne Welt, eine Welt der Gegensätze, des Kummers, des Kampfes, der Auseinandersetzung, der Freude, des Gewinns, des Verlusts. Eine Musik zwischen Schostakowitsch und jüdischer Welt, zwischen Klassizismus und Neobarock.
Eine Musik, die der Komponist selbst (er schrieb die Sonaten zwischen 1971 und 1983, teilweise im Altersheim) möglicherweise nur innerlich gehört hat – über Uraufführungen zu seinen Lebzeiten ist nichts bekannt. Noch dazu sind die CDs des Münchner Labels Solo Musica interessant und das Booklet anschaulich gestaltet mit Weinbergs handschriftlichen Noten – was doch vielleicht wieder einmal für die Bevorzugung von CDs anstelle von Streaming-Diensten spricht. Eine Mission erfüllt Dinerchtein hier. In genau richtiger Resonanz.
Carola Keßler